„Verkaufe Pluszeit. Melden Sie sich umgehend. Oder später. Bezahlung je nach Auftrag“, sagst du und betonst jedes Wort. Du willst, dass ich alles genau höre und verstehe. Während du redest, deutest du mit beiden Händen einen kleinen Zettel an. Als würde er zwischen deinen Fingern auf deinem Schoß liegen. Du zeigst auf den unsichtbaren Zettel und erzählst, dass er dir aus dem Augenwinkel aufgefallen sei, als du im Supermarkt an der Pinnwand eine Wohnungsanzeige gelesen hättest. Jetzt lächelst du mich an, und das erste Mal seit Monaten sehe ich dich so lächeln.
Die Wohnung sei nichts für uns gewesen. „Zu klein“, erzählst du, aber diese Anzeige sei irgendwie hängen geblieben und du seist einige Tage durch den Alltag gelaufen mit diesen Worten im Kopf. „Umgehend. Oder später.“ Das habe dir imponiert. „Weißt du“, sagst du mit dieser nach oben deutenden Kopfbewegung, die du machst, wenn du auf Zustimmung hoffst. Ich nicke. Und schenke mir Wein nach.
„Ich muss dir das jetzt erzählen“, hast du den Abend eingeleitet, noch während du durch meine Tür geschlüpft bist. So als seien wir mittendrin gewesen im Miteinander. Und nicht auf Funkstille seit vier Tagen. Weil du einen Auftrag 300km weit weg hattest und dann noch sichten und sortieren und vergrößern und halt einfach arbeiten musstest. „Halt einfach arbeiten“, war auch dein Ausdruck, als wir noch darüber geredet haben, dass du nichts anderes mehr tust. Dass keine Zeit mehr bleibt für uns.
Jetzt sitzt du umständlich und hibbelig vor deinem vollen Glas Wein schräg neben mir auf meinem Sofa, und während ich mich darum sorge, dass du herunter fallen könntest vor lauter Konfusion in dir. In mir. In diesem Raum. Nach all den Monaten. Und jetzt so viel Lebendigkeit und Reden. Sprudelst du in dieser Mischung aus Überschwang und Verbindlichkeit. Als wären wir noch gut miteinander. So richtig gut. So wie wir waren.
„Ich habe dann beim nächsten Mal im Supermarkt bewusst nach dem Zettel geschaut. Er war in so einer krakeligen Handschrift geschrieben. Ganz anders als die Hochglanzanzeigen drumherum. Ich habe ihn gefunden, und erst habe ich echt gedacht, das ist bestimmt ein Spinner. Und trotzdem habe ich immer wieder darüber nachgedacht. Während des Einkaufens. Ich habe sogar einige Sachen vergessen, und das passiert mir nie. Weißt du. Sowas passiert mir ja echt nie. Also habe ich beschlossen, ich ruf da an. Ich muss da einfach anrufen und wissen, was da angeboten wird. Also was soll das denn heißen, Pluszeit? Das habe ich mich echt gefragt. Weißt du.“
Du siehst mir direkt und mit diesen vorfreudigen Augen ins Gesicht. Ich nicke. Überhaupt nicke ich ständig an diesem Abend.
Du hast dann tatsächlich bei der angegebenen Festnetznummer angerufen. Das betonst du, dass es eine Festnetznummer gewesen sei, und dass das doch ungewöhnlich sei. „Wer hat denn noch sowas“, fragst du, schüttelst den Kopf, stehst auf und setzt dich neu hin. Drei Zentimeter weiter nach hinten. Du ziehst deine Socken zurecht, während du mir erzählst, dass dann diese tiefe Stimme zu hören gewesen sei. „Hallo?“, habe sie gefragt. Und du hättest in dein Handy gesagt, dass du auf die Anzeige anrufen würdest und mal nachfragen wolltest, was mit Pluszeit gemeint sei. Und dann sei einfach nichts passiert. Stille. Nicht einmal atmen sei zu hören gewesen.
Und du schaust mir ins Gesicht und deutest ein Achselzucken an und sagst, dass du in die Stille nochmal „Hallo?“ gefragt hättest und immer noch nichts gekommen sei. Das sei dir unheimlich gewesen, sagst du, und ich nicke und verstehe diesen Abend auf so vielen Ebenen nicht. Schließlich seist du ungeduldig geworden. Habest dich gefragt, was du da eigentlich machen würdest und wolltest auflegen. Da habe die tiefe Stimme gerufen: „Wunderbar. Wie schön, dass Sie anrufen. Haben Sie es jetzt verstanden?“
Jetzt schaust du mich wieder an, und deine Augen strahlen und du stellst das volle Glas Wein auf das Tischchen zurück, ohne daraus getrunken zu haben. „Ich war sauer in dem Moment. Du kennst mich. Sowas kann ich nicht leiden. So Spielchen.“ Und wieder nicke ich, und dieses Mal mischt sich auch bei mir ein Lächeln darunter. Mich durchzucken Erinnerungen an unsere Auseinandersetzungen zu Beginn unserer Beziehung. Weil ich eine Weile gebraucht habe, um zu verstehen, dass du Geheimniskrämereien nicht abkannst. Da verstehst du keinen Spaß.
„Er hat mir dann gratuliert. Echt. Er hat gesagt „Ich gratuliere Ihnen“. Sie haben jetzt das erste Mal meinen Dienst in Anspruch genommen. Mit seiner Pluszeit meinte er. Weißt du. Dieses Warten auf eine Antwort. Diese ruhigen Minuten. Das wäre doch unerwartet aufgetauchte Zeit gewesen. Und genau um solche Erfahrungen gehe ich es in seinem Angebot.“
„Und weißt du“, schaust du mich an. „Das war echt abgefahren. Ich finde sowas absolut unmöglich, aber in dem Moment habe ich einfach nur gedacht, stimmt.“
Um deine Überzeugung zu untermalen, hältst du deine Hände vor dich, die Handinnenflächen nach oben und schüttelst den Kopf. „Is‘ doch krass, oder? Ich habe das echt so gedacht. Der hat mich mit was gekriegt, was ich überhaupt nicht leiden kann. Mich einfach ausgetrickst. Und mir das dann fett aufs Brot geschmiert. Einfach indem er einige Minuten hat vergehen lassen, bis er am Telefon geantwortet hat.“
Ich nicke. Und fühle mich unwohl.
Du redest weiter. Betonst, dass du in diesen Minuten des Telefonats ganz raus warst aus dem Alltag. „Wie aufgetaucht“, sagst du. „Da war mal alles nicht mehr so viel und so hektisch und so voller Anforderungen und Verpflichtungen. Nicht mehr so grau und verhangen.“
Und während du redest und immer begeisterter wirst, schrumpfe ich. Sacke in mich zusammen auf meinem Sofa und beobachte mich dabei. Wie ich das Glas Wein leertrinke, nachschütte. Mich fehl am Platz fühle.
Ich werde erst wieder wacher und klar, als du erzählst, dass ihr euch verabredet habt.
„Ihr habt euch getroffen?“, frage ich und höre Unsicherheit in meiner Stimme und spüre dieses dumpfe Ziehen im Bauch.
Du nickst. Einfach so. Gedankenverloren. Du schaust nicht einmal auf dabei. Schaust mich nicht an. Du denkst dir nichts dabei.
Du erzählst, wie ihr euch vor dem alten Café in der Marktstraße verabredet habt, und er eine aktuelle Tageszeitung dabei gehabt habe. „Da, nehmen Sie die erste Wohnungsanzeige, auf die Ihr Blick fällt. Die schauen wir uns an, sobald wir einen Termin kriegen.“ Du holst Luft und willst weiter erzählen und, es ist das erste Mal an diesem Abend, dass ich mich aufgerichtet und dich unterbrochen habe, und doch kommt es nicht bis zu dir durch. Zunächst. Dann hältst du inne. Schaust mich wieder an und fragst: „Was hast du gesagt?“
Ich sage, dass ich angemerkt habe, dass ihr euch getroffen habt, und dann sage ich, dass es mich irritiert. Dass du mir bisher nichts davon erzählt hast.
„Wieso?“, fragst du und sagst es mit diesem abwesenden Blick. „Getroffen halt“, sagst du und mir ist schlecht vom Wein. Ich lasse dich jetzt reden. Weitererzählen. Mit dieser Zufriedenheit in deinem Gesicht. Und diesem Druck in meinem Bauch. Lasse deine Worte an mir vorbei ziehen.
Wie du dir in seiner Zeitung eine Wohnungsanzeige ausgesucht hast am Stadtrand, und wie ihr dort angerufen habt und einen Besichtigungstermin verabreden konntet. Und hingefahren seid mit der Bahn. Und du dir eine Identität für dich ausdenken solltest. Wie ihr daran gefeilt habt unterwegs. Bis du am Ende einen Vornamen, einen Beruf, ein Alter und eine Idee von deinem Auftreten hattest. Und dir dann eine herunter gekommene Zweizimmerwohnung angeschaut und Begeisterung gespielt hast dieser Immobilienfrau gegenüber. Einfach so. Weil du Pluszeit gebucht hattest. Bei diesem Typ. Der dich nicht begleitet hat in die Wohnung, wie du erzählst. Das sei ja deine Zeit gewesen.
Ich werde so müde, während du redest. Ich verstehe, dass Pluszeit bedeutet, Zeit zu kreieren, die normalerweise nicht vorgesehen war. Sich was ausdenken. Was erschaffen. Ich komme nicht einmal bis zu dem Gedanken, dass ich dieser Idee unter anderen Umständen etwas abgewinnen könnte. Es ist, als fänden meine Gedanken nicht zueinander, als fehlten die Verknüpfungen. Ich verstehe nicht, worum es hier gerade geht, und dieses Gefühl begleitet mich seit Wochen bei unseren Treffen. Während wir essen, was gucken, schlafen, duschen, spazieren, einkaufen. Für das meiste hattest du keine Zeit. Keinen Sinn. Keine Ruhe. Entfremdet höre ich deine Worte und denke daran, dass ich die Blumen in deiner Wohnung gießen möchte.
„Sie hatte einen Balkon, die Wohnung, da sind wir auch drauf gegangen. So einen Kleinen mit einer geschlossenen Betonummantelung und Waschbetonplatten. Da war nichts schön. Da schaute man direkt auf eine andere Häuserwand.“ Du siehst mir ins Gesicht. Ich lächle müde. Angestrengt. Kurz denke ich, jetzt merkst du, dass ich längst abgeschaltet habe. Du merkst es nicht. Holst Luft. Redest weiter. „Aber auf der einen Seite. Da stand so ein alter Sichtschutz aus Bambus. Und davor in so Balkonkästen blühte Minze. Und da saß…“
Und wieder hältst du inne. Und jetzt strahlst du. Und hast rote Wangen, und etwas pikst tief innen in meinem Bauch. Und erneut machst du diese Geste mit den nach oben liegenden Handinnenflächen und setzt dich nochmal wieder neu hin.
Näher zu mir. „Da saß ein Schmetterling.“ Und in dein Strahlen mischt sich dieser Blick. Tief in deinen Augen. Der mich berührt. Plötzlich. Endlich. Und ich sehe Tränen in deinen Augen. Und im nächsten Moment frage ich mich, ob ich es mir eingebildet habe. Du schaust nach unten. Dann wieder nach oben. „Wirklich. Da in diesem ganzen Beton ein Pfauenauge“, sagst du und schüttelst mit dem Kopf. Fassungslos. Und doch ist der Moment vorbei. Die Lebendigkeit ist verschwunden aus deinem Blick. Wie ein flüchtiger Wind war da für einen Moment dieses Band zwischen uns. Dieses vertraute Band.
„Schmetterlinge sind meine Lieblingstiere, habe ich der Immobilienfrau gesagt. Und das ist ja echt so. Also da haben sich meine Rolle und mein Ich irgendwie vermischt, und das war das, was ich später gedacht habe, als ich dann wieder zurück im Atelier war und gearbeitet habe und die Fotos von der Hochzeit durchgeschaut habe, die ich am Tag zuvor aufgenommen hatte. Dass das so ineinander verschwommen ist. Meins. Und das, was ich mir ausgedacht hatte für diese Pluszeit. Wie er sie ja nennt. Und das war wirklich beeindruckend, wie sehr mir das so ein Gefühl von Auszeit und Pause vom Alltag verschafft hat. Wie es zu mir durchgekommen ist.“
Gedankenverloren siehst du jetzt zum Fenster, vor dem es dunkel geworden ist.
Ich wage es fast nicht zu fragen. Alles ist irreal. So konfus. Ich spüre Rührung und doch bin ich unruhig. „Wie hast du ihm das bezahlt?“
Immer noch mit dem Blick zum Fenster sagst du beiläufig: „Mal so, mal so. Für dieses Wohnungsding hat er mich um zehn Euro gebeten. Ein anderes Mal wollte er eine Packung Kaffee. Und einmal eine Salbe aus der Apotheke.“
„Ihr habt euch öfter getroffen?“, sage ich mehr, als dass ich es frage, und ich fühle Erschütterung, und deine Reaktion bleibt aus. Die Unsicherheit ist jetzt überall in mir. Ich bin Irritation, Trauer und Wut. Seit Monaten leben wir nebeneinander her. Ich komme nicht an dich heran. Du vergräbst dich in deiner Arbeit, in deinem Atelier. Manchmal schläfst du dort auf dieser Couch im Eingangsbereich, weil es sich in deinen Augen nicht lohnt, nach Hause zu gehen. Zu dir. Oder zu mir. Das ist irrelevant. Ich weiß nicht, wie du das machst, mit dem Schlafen dort. Es ist steinhart und schmal. Wenn ich danach gefragt habe, hast du dir gar nicht die Mühe gemacht, es mir zu erklären. „Halt einfach schlafen.“ Das war deine Antwort. „Halt einfach arbeiten.“ Immer das gleiche. Ich habe dir den Rücken freigehalten. Woche um Woche. Habe an eine Phase geglaubt. An wichtige Aufträge. Daran, dass es entscheidend sei, all das, für deine Zufriedenheit. Dein Gefühl von Erfolg. Und sich einen Namen machen in der Branche. Sowas wie den Durchbruch schaffen schwebte mir vor. Bis es sich schief anfühlte. Es war keine Phase, kein Durchbruch. Es war ein Steckenbleiben. Ich habe mir Sorgen gemacht, habe gekocht für dich, obwohl du stets zu spät kamst und den Teller nach wenigen Happen beiläufig zur Seite schobst. Habe eingekauft für dich. Ich habe in deiner Wohnung aufgeräumt und deine Mutter vertröstet, wenn sie uns zum Essen einlud und du mir unwirsch sagtest, dass du das nicht aushalten würdest, mit ihr an einem Tisch zu sitzen, während du dich so inkompetent, so bedeutungslos, so wenig erfolgreich fühlen würdest wie aktuell. Ich habe auf dich gewartet. Mal tatsächlich, mal im übertragenen Sinn. Habe darauf gewartet, dass du wieder aus dir heraus kommen würdest. Aus diesem Kokon aus Arbeit und Schutz und Mauer. Du wurdest müder. Und unzufriedener. Grauer. Meine Lösungsvorschläge wolltest du nicht hören, meine Aufheiterungen machten dich aggressiv.
Unsere Gespräche liefen immer gleich. Zunächst war ich irritiert über deine Vehemenz, dass das jetzt alles genau so müsste. Und nicht anders. Dass das jetzt eben so sei. Genau so. „Halt einfach arbeiten.“ Dann kam meine Wut. Es war kein Durchkommen zu dir. Mich hattest du vergessen. Uns. Es ging um irgendwas anderes, dachte ich. „Es geht um nichts anderes. Ich will einfach arbeiten“, schriest du mich an, und da setzte die Trauer ein bei mir. Ich fühlte mich ausgeschlossen und hilflos. Ich vermisste dich. Spätestens an dem Punkt beendetest du das Gespräch. Brachst aus. Genauso wie du ins Gespräch gestartet warst. Gedankenverloren. Gefühlskalt. Starr. Weit weg. Als sei es nicht dein Gespräch.
Ich schluckte das alles herunter. Ich hielt mich daran fest, dass es vorbei gehen würde, und daran, deine saubere Wäsche gefaltet in deinen Schrank zu räumen. Deine Blumen zu gießen. Den Vögeln auf deiner Fensterbank Vogelfutter auszustreuen.
Als hättest du deine Wahrnehmung vor einigen Monaten umgestellt. Nach innen. Und ließest alles abprallen.
Jetzt redest du ohne Unterbrechung. Berichtest von einer Pluszeit, die dir besonders gut gefallen habe. Da hättet ihr euch am Busbahnhof getroffen. Du habest dir eine Buslinie aussuchen sollen, mit der du noch nie gefahren seist. Mit der seid ihr dann zwanzig Minuten unterwegs gewesen, gemeinsam ausgestiegen und er habe sich verabschiedet mit den Worten: „Die Rückfahrt gehört Ihnen allein. Genießen Sie diese Pluszeit.“ Du habest festgestellt, dass du dich schon wirklich lange nicht mehr durch fremde Straßen habest kutschieren lassen. Es sei wunderbar gewesen. So neu und erfrischend. „Einfach Zeit zum Nichtstun. Wie im Urlaub“, schließt du und lächelst, und deine Wangen glühen.
„Ihr habt euch also öfter gesehen?“, wiederhole ich meine Frage und parallel zu der Irritation in deinen geweiteten Augen bewegst du reflexartig deinen Oberkörper ein Stück von mir weg. „Bist du etwa eifersüchtig?“ Du stierst mich an.
Und in diesem Moment. In dem du das fragst. In diesem Moment halte ich es nicht mehr aus und stehe ruckartig auf, und dabei fällt dein unberührtes Weinglas vom Tisch und mit dem Klirren und deinem erschrockenen Begleitlaut höre ich diese Stille der letzten Monate plötzlich überall in diesem Zimmer. Fühle mich eingeschlossen von ihr. Zum Zerplatzen angespannt. Kann nichts mehr herunterschlucken. Gehe über die knarzenden Holzdielen, öffne die Balkontür, trete hinaus in die Nacht, schließe die Tür von außen, in der Hoffnung, nicht verfolgt zu werden von dieser erdrückenden Stille. Und weine. Vor Wut und Trauer. Und Irritation und Unglaube, dass du mir seit Monaten nichts erzählst von dir. Von deinem Leben. Während ich warte und mich sorge und hoffe. Und keine Chance gehabt habe, dir zu helfen, dir nahe zu sein.
Verzögert kommst du auf den Balkon. Lässt die Tür offen. Stehst plötzlich nah hinter mir. Und leise hoffe ich so sehr auf etwas Verbindendes jetzt. Etwas Versöhnliches. Was du sagst oder ich mache. Dass einfach irgendwie passiert. Stattdessen zischst du mir ins Ohr. „Also echt eifersüchtig? Verdammt. Der Typ ist an die 70.“ Und dann schweigst du wieder, und in mir bricht etwas auseinander. Weil du auch jetzt nicht verstehst, wie sehr du mir fehlst. Und worum es mir geht. Und dann höre ich, dass du schluchzt. „Aber dieser Schmetterling. Das war echt das Schönste, das mir in den letzten Monaten passiert ist. Der hat was freigemacht in mir.“ Und lauter ergänzt du: „Und das machst du mir nicht kaputt.“ Und dann gehst du. Du gehst. Verlässt meine Wohnung. Und ich kann es nicht fassen. Ich suche dich im Schlafzimmer. Im Bad. In der Küche, obwohl ich es weiß. Du bist gegangen.
Ich fühle mich zittrig, schlüpfe in die Schuhe, drehe eine Runde durch die dunklen Straßen, versuche die Küche aufzuräumen und dabei klare Gedanken zu finden, liege wach, schlafe kurz und unruhig und stehe im Morgengrauen auf. Mit diesem Gefühl. Mit diesem Kloß im Hals. „Jetzt also ein Schmetterling“, sage ich meinem Spiegelbild im Badezimmer und denke: „Jetzt also ein Schmetterling.“ Der hat dir also geholfen. Und ich habe deine Augen gesehen gestern Abend. Dein Schluchzen gehört. Ich habe dich fühlen können gestern Abend. Und kurz ein Kribbeln bei mir. Weil es das erste Mal seit Monaten war, dass da überhaupt etwas war. Ausgelöst durch diesen Schmetterling. „Schmetterling“, spreche ich meinem Spiegelbild verlangsamt und deutlich jede Silbe vor. Und wiederhole es. Ich denke daran, wie ich dich das erste Mal gesehen habe. Auf dieser Bank. Und wie wir uns unterhalten haben. Über das richtige Licht zum Fotografieren. Da wusste ich noch nicht, dass du dein Geld damit verdienst. Während ich mit Zahnpasta einen Schmetterling auf den Spiegel male, werden Bilder wach in mir. Von uns. „Wenn ich alles beiseite schiebe und nur sehe, dass du extra gekommen bist, um mir von diesem Schmetterling zu erzählen. Und wie aufgeregt du warst. Also wenn ich mir nur diesen Ausschnitt heran zoome, dann hat dieser Schmetterling etwas geschafft, was mir nicht gelungen ist. Also das muss ich so sagen“, erzähle ich dem Zahnpastaschmetterling. Und es kribbelt in meinem Bauch. Du und ich. Schmetterlinge im Bauch. So sagt man das, und ich stelle mir das vor, wie dein Schmetterling jetzt in meinem Bauch flattert. Etwas geschaffen hat. Diese Verbindung wieder hergestellt. Für einen kurzen Moment. In diesem Raum. Wie es wieder lebendig wird. Bei dir. In dir. Mit uns. Innig. Verbunden. Miteinander.
Da hat dich was berühren können. Und in meinem Körper breitet sich das Kribbeln aus. Wie über einen Geheimweg hast du dich berühren lassen. An mir vorbei. Und doch bis zu mir hinein. Schmetterlingswege. Flügelschlagen bis tief in uns hinein. Vielleicht gibt es da diesen Raum, den wir beide in uns haben, und nun gibt es einen Zugang. Das schaffen wir doch. Da können wir uns doch treffen. Du hast diesen Weg gefunden. Und wolltest mich mitnehmen. Ich nicke dem Schmetterling und meinem Spielbild zu. „Ich komme“, sage ich.
An diesem Tag fahre ich zur Arbeit, und da ist ein neues Gefühl. Ein Gefühl von Schmetterling. Ich schreibe dir eine Nachricht: „20 Uhr Essen bei mir.“ So wie ich das immer mache, wenn ich uns was koche. Und schicke noch eine Nachricht hinterher: „Freue mich auf deinen Schmetterling. Tut mir leid wegen gestern. Habe festgehangen.“
Du antwortest zwei Stunden später mit einem Daumen-hoch-Smiley. So wie du das immer machst. Und dann schickst du noch eine Nachricht hinterher. Mit einem kleinen Schmetterling.
Und abends, als ich koche, weiß ich, dass es sein wird, wie es immer war in den letzten Wochen. Ich werde das Essen auf den Tisch stellen, du wirst zu spät kommen. Du wirst müde sein und abgeschaltet, und du wirst den Teller nach wenigen Happen beiläufig zur Seite schieben. Wir werden in keine Unterhaltung finden, weil deine Konzentration nicht reicht, und ich werde mich traurig und leer und hilflos fühlen. Und zu viel Wein trinken.
Der einzige Unterschied wird sein, dass jetzt auf dem Tisch Minze in einem Topf wächst, die ich auf dem Heimweg gekauft habe und die irgendwann blühen wird. Und dass ich jetzt weiß, dass es diesen Schmetterling gibt, der dich berühren konnte. Und der den Zugang kennt zu diesem Raum. In dem du lebendig bist. In dem die Hoffnung wohnt. Und unsere Verbundenheit. Den du gefunden hast über diese krakelige Anzeige, einen gewöhnlichen Schmetterling und diesen kuriosen Weg.
Ich werde die Minze anschauen heute Abend. Mich festhalten an ihr. Und den Mut haben, daran zu glauben, dass es wieder anders werden wird. Und zu dir sagen, dass das bei dir gerade vielleicht mehr ist als nur eine kleine Schaffenskrise. Und Geheimwege und Zugänge braucht. Die du sicher findest. Vielleicht mit Unterstützung. So wie eben den Schmetterling. In dieser Zeit, die nicht vorgesehen gewesen ist.
© Mirjam Sarrazin