Es ist der Tag, an dem ich keine Unterhose trage, als ich ihn in meiner Mittagspause sehe. Ich stehe vor dem Briefkasten und vergewissere mich, ob ich eine Briefmarke auf den Umschlag geklebt habe. Aus den Augenwinkeln entdecke ich ihn. Er wirkt insgesamt grau mit diesen leuchtenden Augen, die mir allerdings erst viel später auffallen werden. Er ist keine zwei Meter von mir entfernt direkt vor dem Schaufenster stehen geblieben, trippelt einige Schritte hin und her, zupft sich die Hose zurecht und fängt dann an zu sprechen. In das Schaufenster hinein. Leise.
Zaghaft trete ich einen kleinen Schritt zurück, um einen Blick ins Schaufenster werfen zu können. Es ist ein Eckladen, der Perücken und Haarpflegeprodukte verkauft. In einem hinteren Raum lassen sich Kund*innen die Haare machen, und es ist einer dieser Läden, von denen es hier in dieser Gegend so viele gibt, aus denen ich immerzu Geschäftigkeit wahrnehme, Lachen und Reden, und an der offenen Ladentür machen Passant*innen Halt, schauen hinein, rufen nach jemandem, bringen Kaffee oder Essen, setzen sich auf einen der Plastikstühle im Laden oder verschwinden im Hinterraum.
Der Mann steht unbeirrt vor dem Schaufenster und spricht. Mittlerweile laut. Ich glaube mit der Perücke auf dem Plastikkopf ganz links. Er gestikuliert, er lacht. Dann macht er einen überzeugten Schritt nach rechts und unterhält sich mit der zweiten Perücke. Sie ist glatt und lila. Es ist eine angeregte Unterhaltung.
Ich halte den Brief in meiner Hand und bin so abgelenkt von der Szene, dass ich nicht mitbekomme, wie sehr ich im Weg stehe und eine Person mit Kinderwagen auf die Straße ausweichen muss, um an mir vorbei zu kommen. Es fühlt sich an wie eine kleine Trance, aus der ich plötzlich hochschrecke und einen Schritt nach vorne gehe, um den Brief einzuschmeißen, ihn dann aber doch festhalte und wieder zu den Perücken schaue.
Der Mann setzt sein Gespräch fort. Von links nach rechts nimmt er sich jede Perücke mit jedem Plastikkopf vor. Er spricht auf Sprachen, die ich weder verstehe noch zuordnen kann. Melodie und Klang sind jeweils so unterschiedlich, dass ich sicher bin, dass er für jede Perücke eine eigene hat. Ich weiß nicht, was er ihnen erzählt, und es scheint existentiell zu sein. Und lebendig, ausufernd. Jedes Gespräch ein Fest.
Leute von der gegenüberliegenden Seite der Straße werfen einen Blick zu ihm hinüber, da er so übermütig spricht, dass alle dieser Einladung für einen kurzen Moment folgen, aus einem Impuls hinaus zu ihm schauen.
Nur die Ladenbesitzer*innen und ihre Kund*innen schauen nicht, sie ignorieren ihn, kennen ihn vielleicht.
Als er bei der letzten Perücke angekommen ist, beendet er seine Unterhaltung abrupt, dreht sich ruckartig um und geht los, den Bürgersteig entlang, als sei er niemals stehen geblieben, als habe er niemals etwas anderes gemacht, als zügig einen Bürgersteig entlang zu gehen.
Ich folge ihm. Es ist wie ein Sog. Ich halte den Brief in meiner rechten Hand und gehe mit schnellen Schritten hinter dem Mann her. Quer durch ein Wohngebiet, eine ganze Weile entlang der Hauptstraße, durch ein kleines Industriegebiet, in dem Tapeten und -zubehör verkauft werden. Wir überqueren eine Brücke, gehen entlang des Flusses, und ich frage mich, was sein Ziel ist. Und was meins. Ich spüre meine Füße und stelle fest, dass ich bald nicht mehr laufen kann. Meine Kondition scheint mit seiner nicht mithalten zu können.
Schließlich überqueren wir erneut eine Brücke, ich entdecke eine Eisdiele und entscheide anzuhalten. Lasse ihn seines Weges gehen. Kaufe mir ein Eis, setze mich auf eine Parkbank in die Sonne. Höre die Vögel. Schlecke mein Eis. Packe den Brief in meinen Rucksack.
Wo er einige Tage bleibt, mich begleitet zur Arbeit. Bei meinem Freund übernachtet. Einkaufen geht. Im Fitnessstudio in der stickigen Umkleide wartet.
Bis ich den Mann wieder sehe. Dieses Mal stehe ich nicht vor dem Briefkasten, laufe auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Höre ihn reden, rufen, feiern. Sehe ihn gestikulieren. Nach und nach mit jeder Perücke. Ich überquere die Straße. Bleibe vor dem Briefkasten stehen, denke nicht an den Brief, beobachte den Mann. Wieder dieser Sog. Wieder dieses Eintauchen. Das Außen versinkt in dieser Dimension an Auseinandersetzung, an Kommunikation. An Verbundenheit. Wieder läuft er los. Abrupt. Wie aus dem Nichts. Und ich folge. Mit jedem Schritt wird mir leichter.
Wieder stoppe ich an der Eisdiele. Kaufe mir ein Eis, setze mich auf die Parkbank, esse. Etwas zu hastig. Hole den Brief aus meinem Rucksack. Halte ihn. Abgenutzt. Stecke ihn zurück in den Rucksack. Wo er einige Tage bleibt.
Ich sehe den Mann jetzt öfter. Weil ich nach ihm suche. Ich schaue, ob ich ihn entdecke. Ich lungere am Briefkasten herum, wenn ich Zeit habe. Ich kann das nicht gut beschreiben. Es tut mir gut. Der Mann tut mir gut. Vielleicht lasse ich mich gehen. Der Mann lässt mich gehen. Hinter ihm her. Schnell. Bis zur Eisdiele. Und als sei dort eine unsichtbare Schwelle, laufe ich nie weiter. Ich weiß mittlerweile, dass er alle zwei bis drei Tage auftaucht, immer um die Mittagszeit. Ich weiß, dass er den gleichen Weg kommt, den er nach seiner Unterhaltung mit den Perücken auch wieder geht. Ich weiß, dass er viele verschiedene Jacken und Hosen hat, auch einige Paar Schuhe, dass er einmal plötzlich die Haare kürzer trägt. Dass er an manchen Tagen hinkt.
An diesen Tagen fällt es mir leichter, Schritt zu halten. Und das auszuhalten, fällt mir schwer. Genau an einem solchen Tag passiert es. Wir haben die zweite Brücke überquert, ich erahne mein Eis, da bleibt er stehen. Dreht sich ruckartig zu mir um. Kommt auf mich zu. Ich bin so erschrocken, dass ich nicht reagiere. Ich halte einfach an. Stehe wie angewurzelt. Ohne zu atmen.
In einiger Entfernung bleibt er stehen. „Bitte folgen Sie mir nicht. Ich brauche Sie nicht.“ Und ich entdecke diese leuchtenden Augen. Klar, offen, strahlend. Es ist mehr sein Blick, der mich durchfährt als seine Ansage. Er trifft mich. An der Stelle, die gemein als „mitten ins Herz“ bezeichnet wird. Ich zucke zusammen, da hat er sich längst wieder umgedreht und ist weitergelaufen. Ich sehe ihn noch. Seine Worte hallen nach. Ich hole tief Luft und fühle mich verwundet. Ertappt. Entfremdet und aus dieser Situation geworfen.
Langsam wende ich mich zum Gehen. Den Weg zurück, den wir gerade gekommen sind, und als könnte ich nicht loslassen, es nicht fassen, drehe ich mich noch einmal um und schaue, ob ich ihn noch sehe. Er ist verschwunden.
Ganz langsam mache ich mich auf den Weg. Ich spüre Trauer. Eine Beklommenheit und eine Wehmut. Er braucht mich nicht, das hat er mir gesagt. Ich bin es, die ihn braucht. Die ihn gebraucht hat in den letzten Wochen. Ich habe mich an seiner Lebendigkeit festgehalten. An diesen kurzen Momenten. An dem Sog. An seiner Ausstrahlung. Mit diesen Augen, wie mir heute klar wird.
Als ich das kleine Industriegebiet durchquere, weine ich und gehe noch langsamer.
Und dann stecke ich ihn ein, den Brief. Ich hole ihn aus meinem Rucksack und werfe ihn in den Briefkasten neben dem Schaufenster mit den Perücken.
Diesen Brief an dich.
In dem ich dir schreibe, wie sehr du mir fehlst.
Nachdem ich dir vor drei Jahren erklärt habe, dass ich den Kontakt abbrechen muss aus Gründen, die mir heute so unwichtig, so nichtig erscheinen, und die für mich die Welt bedeuteten. Damals.
Ich habe ununterbrochen an dich gedacht. Ich habe dir in Gedanken all die kleinen Details des Alltags erzählt. Habe mit dir gelacht. Du warst immer bei mir. Ich habe im Flur neben der Garderobe den alten Koffer aufgeschlagen und deine Sachen darin gesammelt. Die ich nach und nach fand in der Wohnung. Drei Jahre lang gab es diesen kleinen Ort mit deinen Sachen. In einem Koffer. Griffbereit. Startklar. Los geht’s. Da war etwas nicht abgeschlossen. Mit großen Worten hatte ich dir gesagt, dass ich den Kontakt abbrechen muss. Ohne mich zu entschuldigen. Ohne es zu erklären. Ich hatte das Gefühl, ich würde mich lediglich versuchen rauszureden. Ich wusste, wie sehr du leiden würdest. Ich wusste, wie sehr ich dir damit etwas nehmen würde. Eine Art Basis. Ich wusste das, und ich wollte das nicht relativieren. Und dann bliebst du hängen in mir. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte mich selbst austricksen wollen. Mich selbst überzeugen, dass es ohne Wenn und Aber nun vorbei sei mit uns. Unserem gemeinsamen Weg. Für mich war das wichtig. Damals. Jetzt ist es unverständlich, irritierend, zum Kopf schütteln, Haare raufen, aus der Haut fahren. Nachdem mir klar geworden ist, wie sehr ich mich betrogen habe.
Ich habe dir all das aufgeschrieben in meinem Brief. Und ich hoffe sehr, dass er dich erreicht, dass du dort noch wohnst, in dieser kleinen Wohnung mit dem Giebel unterm Dach. Und dem Balkon voller Treibholz, das wir gesammelt haben. Mit den Kletterpflanzen an gewaltigen Ästen. Und dem Duft. Der immer irgendwie auch deiner war. Auf dem Balkon haben wir gesessen und Rohkost gedippt, und im Sommer war er so zugewachsen, dass uns von außen niemand sah, wenn wir lachten. Ich hoffe, dass du meinen Brief öffnen wirst. Und dass du ihn liest. Dass du mir eine Chance gibst. Uns. Einem Kaffee. Zusammen. Oder einem Glas Wein. Und dass du an diesem Tag, an dem der Brief kommt, keine Unterhose trägst. Machst du das noch so? Dass du an Tagen, an denen du dich fremd fühlst mit der Welt, die Unterhose weglässt? Als stiller Trotz gegen all die verfahrenen Strukturen da draußen und in uns drinnen? Ich stelle mir das vor, wie du meinen Brief bekommst, an so einem Tag, und da gäbe es dann vielleicht diese Chance. Dass du ihn liest. Und erstmal wirken lassen kannst. Er einen Zugang findet zu dir. „Diese Tage ohne Unterhose, das sind Tage für Zauber“, hast du mir erklärt vor vielen Jahren.
Jetzt ist er weg. Dein Brief.
Ich schaue zur Seite. Gehe ein paar Schritte. Stehe vor den Perücken und ihren Plastikköpfen. Ich fange links an und arbeite mich dann langsam nach rechts. Schritt für Schritt höre ich zu und es ist mehr ein Raunen und ein Tuscheln. In Sprachen, die ich nicht verstehe „Du bist gut genug.“ „Genieß den Abend!“ „Es ist alles erledigt.“ „Iss für uns mit!“ Die letzte ruft mir zu: „Morgen sehen wir uns wieder!“
Und nun laufe ich los. Mit diesem Kribbeln im Bauch, husche beim Supermarkt vorbei, kaufe Rohkost und Knoblauch und allerlei Zubehör und springe nach Hause, stelle die Musik laut, öffne die Fenster, decke den Tisch. Mit einer Kerze. Und zwei Weingläsern. Ich schenke ein. Ich nippe. Es schmeckt wunderbar. Es ist ein Fest. Ich sitze die halbe Nacht mit dir am Tisch, rede, gestikuliere, dippe, feiere. Nachdem du gegangen bist, ziehe ich meine Unterhose aus und tanze.
Bis bald!
© Mirjam Sarrazin