Sie sitzt im Zug. Landschaften rauschen vorbei. In ihrem Kopf Worte, Gedanken, Bilder. „Irgendwann geht es vielleicht nicht mehr ums Schützen“, denkt sie: „Sondern ums Loslassen. Ums Öffnen.“
Der Zug verlangsamt, fährt in einen Bahnhof ein. Ihr Blick fokussiert Gepäckstücke, zusteigende Personen, verschwimmt, geht nach innen. Aus den Gedanken und Worten werden Sätze. Textstücke entstehen.
„Liebe Leute, ich lade euch ein. Hier ist es sehr schön. Grün, mit viel Natur und wilden Pflanzen und bunten Blüten. Es gibt herrlich hohe Bäume, und in manche wurden Baumhäuser gebaut. Es führen Strickleitern hinauf, es gibt gemütliche Ecken in ihnen, und wer mag, kann dort schlafen. Oder ein Zelt auf der Wiese aufbauen, die nicht gemäht wird, und auf der die Rehe leben. Auch unten am Fluss gibt es hübsche Stellen. Dort kann Feuer am Strand gemacht werden. Es gibt viel Sand dort, auch Kiesel. Und zwischendrin größere Steinansammlungen. Und einen Sonnenuntergang.“
Der Zug fährt wieder an, lautes Gewimmel um sie herum. Personen, die sich Plätze suchen, sie ins Hier und Jetzt holen. Schnell legt der Zug an Geschwindigkeit zu, schon fliegen die Häuser am Ortsrand vorbei. Dann wieder Felder, Blick in die Weite. Und Sätze, die in ihr wachsen.
„Jahrelang habe ich diesen Ort aufgebaut, gepflegt, mich gekümmert. Er war mein Ort des Schutzes. Am Anfang gab es ihn nicht. Ein Nichts. Dann eine erste Blume. Irgendwo aus dem tiefsten Nichts. Und diese große Verantwortung. Es gab wenig Wasser und kein Licht. Und ich habe eine Entscheidung getroffen. Und mich gekümmert. Allen Widrigkeiten zum Trotz, habe ich die Blume versorgt, und nun schaut euch hier um. Es ist ein Wunder, was alles gewachsen ist. Ich habe mit der Zeit verstanden, dass die wesentliche Arbeit nicht das Wasser Anschleppen und Gießen ist, nicht das Verteilen der wertvollen Komposterde oder das Anlegen rudimentärer Struktur, auch auch zarten Pflanzen eine Chance zu geben. Es ist das Weitermachen. Das Aushalten. Das Vertrauen darauf, dass aus inneren Bildern echtes Leben wird. Dass aus inneren und äußeren Welten die gleichen, echten Gefühle entspringen. Dass dieser Ort eine tiefe Relevanz hat.“
Allmählich geht die Sonne unter vor dem Fenster. Das Licht wird ein anderes. Überall im Körper spürt sie die Erschöpfung, ihre Augen fallen zu. Sie öffnet sie wieder, sucht diese Weite mit dem Blick, findet sie zunächst in der Pappelreihe hinten an der Landstraße, dann in den Sätzen in ihrem Kopf.
„Es ist ein Lebensort gewachsen. Ein lebendiger Ort. Es ist ein Ort der Fülle. Ein sicherer Ort. Ein wunderbarer Ort. Und ich fühle mich einsam.“
Sie seufzt, bemerkt die Person, die plötzlich neben ihr sitzt. Sie hat das nicht mitbekommen, als sie sich gesetzt hat. „Es ist schön, wen neben mir zu haben“, denkt sie, und spürt Traurigkeit.
„Ich lade euch ein hier zu mir an diesen Ort. Es ist sehr schön hier. Ich habe das alles für mich gebaut. Ich brauchte Ruhe, Schutz, einen Rückzugsort. Nun brauche ich euch. Es ist ein Wunder, was hier alles gewachsen ist. Nun ist es Loslassen, Öffnen. Es ging um Vertrauen in diesen Ort, in mich. In dieses Wachsen innen. Nun geht es um Vertrauen in mich und in euch.
Ich wünsche mir, dass wir Feuer machen unten am Strand. Dass wir Lieder singen, Steine flippen lassen, dass wir vielleicht baden und lachen und Steintürme bauen. Ich wünsche mir, dass wir auf den Baumhäusern schlafen, wissen, dass dort die Tiefe unter uns ist, der dicke Stamm uns hält, und dass morgens Vögel um uns herum sind. Und ich wünsche mir, dass ihr Wünsche habt. Und sie mitbringt an diesen Ort. Es wird Neues entstehen.“
Gleich hält der Zug, gleich muss sie aussteigen. Gleich verliert ihr Blick die Weite. Schon sind die ersten Häuser in Sicht.
„Einladung“, denkt sie ein letztes Mal in die Weite hinein. „Ich wünsche mir Nähe mit euch“, formt sich dieser Satz in ihr.
Sie steht auf, nimmt ihre Tasche, wartet, bis die Person neben ihr aufgestanden ist, der Zug erreicht den Bahnhof, hält. Im Strom der Leute fließt sie mit, steigt aus.
„Ich lade euch ein. Die Gartentore habe ich geöffnet, und so bleiben sie. Ich freue mich sehr auf euch“.
Nun geht sie zum Bus. Ein paar wenige Meter bis zum Bus, ein paar wenige Minuten mit dem Bus nach Hause. Ausruhen. Ankommen.
„Mehr kann ich nicht tun für den Moment“, denkt sie.
Weitermachen. Aushalten. Vertrauen darauf, dass aus inneren Bildern echtes Leben wird. Dass aus inneren und äußeren Welten die gleichen, echten Gefühle entspringen. Dass dieser Ort eine tiefe Relevanz hat. Dass welche kommen. Dass welche gerne von ihr eingeladen werden. Dass welche nah sein wollen mit ihr. Dass welche Wünsche haben und mitbringen.
Die wenigen Minuten im Bus nutzt sie, um die Gedanken in sich abzuspeichern. „Einladung“, denkt sie wieder, und dann fällt ihr ein, dass sie ihre Einladung vielleicht ausdruckt und am nächsten Tag an einigen Orten aufhängt.
© Mirjam Sarrazin