Ich setze mich ans Ufer, auf eine dieser breiten Steinstufen, die hier die Promenade einnehmen, reiße die Chipstüte auf und erstarre. Im ersten Bruchteil dieser Sekunde denke ich „Tierchen“ und verwerfe diesen Gedanken dann wieder, denke stattdessen „Illusion“ und schaue kurz hoch aufs fließende Wasser, dann wieder in die Chipstüte. Und denke gar nichts mehr. Für den übrigen Rest der Sekunde. Und einige Sekunden darüber hinaus. Es ist einer dieser Momente, in denen das Gehirn einen Salto macht. Einen doppelten.
Reflexartig lasse ich die Tüte fallen, und Chips verteilen sich auf dem Boden. Und dazwischen bewegt sich was. Ich habe keine Ahnung. Ich kann es nicht definieren. Ich beuge mich etwas herunter, widerwillig, fluchtbereit. Es sind Gestalten. Kleine Wesen. Wie Lichtmomente. Es sind viele, und es strömen immer mehr aus der Chipstüte. Geschäftig laufen sie über die Treppenstufe, über die Chips. Oder schweben sie? Ich kann es nicht erkennen. Als würde mein Blick in Licht enden. Sie transportieren Chips aus der Tüte heraus und verteilen sie auf dem Boden. Um meine Füße herum. Sie legen sie aus. Wie zum Trocknen. In einem Muster. Wie ein Mandala, denke ich und kann es gar nicht glauben. Dass ich etwas denke, was es gar nicht gibt. Und sichtbar ist für mich. Einige laufen über meine Schuhe. Oder schweben. Ich spüre sie nicht. Ich sehe sie. Ohne zu wissen, was ich sehe. Als wäre eine Lücke im Gehirn.
Ich wende meinen Blick ab. Was mir nicht leicht fällt. Ich bin wie gebannt. Ich lasse meinen Blick über den Fluss gleiten, über die üppige Wiese neben diesen breiten Steinstufen, über die blauen Kornblumen, den Mohn, der noch nass ist vom Regenguss und einen Teil seiner Blätter wie rote Farbtupfer zwischen den grünen Gräsern abgeworfen hat.
Ich hole Luft, wage es und schaue wieder nach unten, zu meinen Füßen. Da liegt die offene Chipstüte, und daneben verteilen sich an die dreißig Chips in diesem Muster, und überall wimmelt es von kleinen Gestalten. Lichtgestalten, denke ich. Und dann saust mir dieses Wort durch den Kopf. Engel. Und fast im gleichen Moment. Absurd. Und kurz halte ich die Luft an, sehe mich von außen hier im Sonnenschein am Ufer sitzen. Und ich habe Hunger und eine Gänsehaut, und dann setzt das Treiben zu meinen Füßen plötzlich aus. Stillstand. Und meinem Blick begegnen tausend Blicke. Aus Licht. Die Wesen halten inne. Keinerlei Bewegung. Und schauen mich an. Und ich denke, ich sehe keine Augen. Sie haben keine Gesichter.
Und doch schauen sie mich an. Direkt. Offen. In mich hinein. Mit dieser Tiefe. Und wieder halte ich die Luft an und wechsle die Ebene in die Vogelperspektive, und wieder saust dieses Wort durch mein Gehirn. Engel. Und dann atme ich aus, und plötzlich sprechen sie mit mir. „Absolut richtig. Wir sind Engel.“
Sie lösen sich abrupt aus der Erstarrung und widmen sich ihrem Gewusel. Sie haben Spaten und Hacken, bearbeiten die herumliegenden Chips. Sie holen irgendwoher Schubkarren, die sie befüllen. Sie fegen. Sie graben. Sie haken. Sie schlagen Löcher.
„Engel?“, frage ich und erschrecke darüber, meine eigene Stimme zu hören, die klingt, wie sie eben klingt, wenn ich mich unterhalte.
Wieder Stillstand, wieder alle Blicke auf mich. „Absolut. Engel.“
Und zurück ins Treiben. An die Arbeit. Auf einem Chip wird eine Ausgrabungsstelle vorbereitet. Sie hocken auf Knien, sie legen Werkzeuge bereit. Sie berechnen. Sie murmeln. Sie sind konzentriert.
An einer anderen Stelle wird ein Bagger bereitgestellt und Absperrband befestigt. Und überall Schubkarren.
Ich räuspere mich. Als Vorlauf für meine Stimme. Generalprobe. Es funktioniert. Ich höre mich. Absurd, denke ich wieder, und dann frage ich: „Was macht ihr denn hier überhaupt?“
Die Reaktion kenne ich nun schon und doch überkommt mich dieser kleine Schreck, als ihre Erstarrung und all diese Blicke mich treffen. „Abtragen.“
Und schon arbeiten sie weiter, wuseln, laufen, hacken, murmeln.
„Abtragen?“, hake ich nach und kann mit dieser Antwort nichts anfangen. Dieses Mal hält nur eines der Wesen inne, wendet sich mir zu, schaut mich lange an und nickt schließlich. „Ballast abtragen. Darum geht es hier.“
Und ich verstehe nicht, was das sein soll, und mein Gehirn signalisiert mir Chaos, und dann spüre ich diese Wärme in mir aufsteigen. Sie kommt von irgendwo tief unten, und vielleicht ist es ein warmes Licht, das sie transportiert und das mit ihr allmählich nach oben steigt. Zu mir. In meinen Körper. In den Bauch, in die Brust und dann in Arme und Beine. Bis ins Gehirn und da dann wieder ein Salto.
„Was für Ballast?“, liegt mir auf der Zunge, und der Salto treibt die Buchstaben auseinander, sie fliegen in alle Richtungen, und da ist diese Schläfrigkeit in mir.
Wieder wendet sich ein Wesen mir zu. „Dieser ganze Krempel hier. Allerlei Gedöns. Nimmt Platz weg und hilft nicht weiter. Erschwert alles. Also weg damit.“ Sie lesen meine Gedanken, denke ich, und plötzlich kommt es mir selbstverständlich vor. Natürlich können sie das. Engel können sowas. Und dann erkenne ich die Struktur in ihrer Geschäftigkeit. Nach und nach erarbeiten sie kleine Haufen, die sie in einer Reihe neben dem Chipsmandala positioniert haben. Farblich sortiert. Rot, gelb, grün, orange, braun, und einen ganz kleinen schwarzen kann ich erkennen. Sie bestehen aus Pulver, das sie aus den Chips produzieren. Abtragen. Nach und nach tragen sie Schicht um Schicht ab und verteilen die Partikel mit ihren Schubkarren auf die Haufen.
„Ihr tragt also die Chips ab? Warum?“, frage ich, und ich muss mich nicht mehr räuspern. Ich spreche laut und deutlich und bin jetzt mitten in der Situation. Ich möchte das jetzt verstehen und bekomme keine Antwort. Stattdessen wird an einer Stelle eine Großbaustelle hochgefahren. Kräne, ein rotierender Betonmischer und Baustellenschilder werden installiert. Ich erkenne sogar ein Klohäuschen, und in rasender Geschwindigkeit errichten sie den Rohbau für ein Hochhaus.
„Ein Hochhaus? Wofür braucht ihr jetzt ein Hochhaus?“, frage ich und bin irritiert. Ein Wesen wendet sich mir zu: „Manchmal muss man etwas ausholen.“ Und wendet sich wieder ab, zieht seine Schützer über und greift nach einem Presslufthammer.
„Ich verstehe das alles nicht“, sage ich. „Ihr tragt die Chips ab? Warum? Ihr macht Pulver aus Chips?“
Vielleicht sind sie zu beschäftigt. Niemand antwortet. Ich schaue ihnen eine Weile zu und fühle dieses Unwohlsein. Da wo Wärme war, ist jetzt ein nagendes Gefühl. Eine Unsicherheit. Was soll das denn alles hier, denke ich und spüre dieses Pochen in meinem Kopf. „Was soll das denn alles hier?“, frage ich laut und bestimmt. „Warum macht ihr Pulver aus meinen Chips?“
Erstarrung. Blicke. Gänsehaut. „Nicht nur Chips“, sagen sie, und automatisch wende ich meinen Blick zur Wiese. Und sehe sie. Überall. Wie sie sich Gassen durch die Gräser gebahnt haben, wie sie Leitern an Stängeln befestigen, hochklettern. Wie sie an ihren Fahrzeugen Hochebenen ausfahren und Mohnblumen auseinandernehmen. Auseinandernehmen, denke ich. Und erstarre. Weil sie erstarren. Blicke. „Abtragen“, sagen sie und betonen jede Silbe. „Nicht auseinandernehmen.“ Und wenden sich wieder ab.
Und jetzt reicht es mir. Ich bin wütend.
„Ich glaube eigentlich nicht an Engel“, sage ich und wieder alle Blicke auf mir. Und dann möchte ich „Die sind mir irgendwie immer zu glatt und zu abgedroschen“ hinterhersetzen, aber da haben sie sich bereits wieder abgewandt.
Nur ein Wesen dreht sich mir erneut zu, macht eine wegwerfende Geste und ruft mir ein beiläufiges „Irrelevant“ zu.
Noch gebe ich mich nicht geschlagen, noch gebe ich nicht auf, diese Situation irgendwie in meinen Verstand zu kriegen. „Ihr habt ja nicht einmal Flügel“, sage ich trotzig, und dann habe ich sie wieder, ihre volle Aufmerksamkeit. Für diesen kurzen Moment, in dem sie sagen: „Wir sind, was du brauchst.“ Und sich im gleichen Moment ihren Chips und Blumen und Wiesen und großen Maschinen zuwenden. Und den Haufen aus Pulver, die zu Bergen wachsen.
Und ich fasse es nicht, aber tatsächlich erkenne ich plötzlich zaghafte, schemenhafte Flügel in den Lichtstrukturen. „Meine Güte nochmal“, rufe ich laut aus und es interessiert sie überhaupt nicht. Sie arbeiten und werkeln und machen, und ich kämpfe mit den Tränen.
„Was ist das für Ballast, den ihr da abtragt?“, frage ich, und niemand reagiert, und ich kriege dieses laute Gefühl in mir zu packen und spüre, dass es mir Angst macht, hier in der Sonne zu sitzen. Mit Engeln aus meiner Chipstüte. Und dabei zusehen, wie sie meine Chips, die Blumen, die Wiese und meine Fassung auseinandernehmen. Ja. Auseinandernehmen, denke ich bewusst. Da könnt ihr mir erzählen, was ihr wollt, denke ich auch. Kampfbereit. Und „Was ist dieses Abtragen?“, äußere ich herausfordernd.
Endlich wendet sich ein Wesen mir zu. „Das sind doch alles Symbolbilder hier. Schau in dich hinein. Was da passiert. Der ganze Ballast. Der kann doch weg. Hilf uns ein bisschen. Trag ihn doch mal ab.“ Und dann lässt es mich wieder alleine mit meiner Irritation, und mir bleibt nur, dem Treiben zuzuschauen. Erschöpft. Durcheinander. Mit Saltos im Gehirn. Auf ungesicherten Trampolinen.
„Was heißt das denn?“, frage ich leise.
Sie halten inne, wenden sich mir zu, alle Blicke treffen meinen. Verharren. Und wenden sich wieder ab. Ich sehe sie jetzt überall. Auch unten direkt auf dem Wasser entdecke ich sie. „Was tragen sie wohl vom Wasser ab?“, frage ich mich und will es eigentlich gar nicht wissen.
Und dann kommt sie wieder, die Wärme. Von tief unten. Und sie wird getragen von Licht. Sie füllt mich aus. Entspannt meinen Körper. Beruhigt mein Gehirn. Und plötzlich fange ich an zu reden, weil Worte kommen, und sie wollen raus. „Ich trage immer diese Trauer in mir. Dieses Gefühl, fremd zu sein. Ich komme aus einer Welt, in der gibt es Sachen, die passen nicht in diese Welt. Von denen will hier niemand wissen. Und so gut ich sie verstecke, ich trage sie immer in mir, und die Leute hier in dieser Welt spüren sie. Sie haben Angst vor mir. Sie schrecken vor mir zurück. Ich bleibe allein.“
Sie hören mir zu. Alle hören mir zu. Sie nicken. Sie leuchten. Und wenden sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Und als wollte ich noch einen Moment ihrer Aufmerksamkeit erhaschen, sage ich schnell: „Abtragen?“ Und ich habe es geschafft. Alle Blicke wieder bei mir. Stillstand. Ein Moment zwischen jetzt und gleich. „Ich trage diesen ganzen Ballast ab?“ Und jetzt nicken sie. Und überall in mir sind Wärme und Licht. Ich schaue ihnen beim Arbeiten zu. Spüre diese Ruhe tief in mir.
Ein Wesen wendet sich mir zur: „Alle Leute haben Baustellen. Sie haben ihre Höhen und Tiefen und ihre Gerüste, um sich abzusichern. Lass sie in Ruhe. Nutz die Energie für dich. Trag deinen Ballast ab!“
Ich zögere. Ich möchte noch etwas fragen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es verstanden habe. „Ich bin nicht gut im Bauarbeiten“, äußere ich zögerlich. Keine Reaktion. Sie arbeiten emsig. „Also ich meine, wie kann ich das machen mit dem Abtragen?“, traue ich mich ins Nichts zu fragen. Und es funktioniert. Ein Wesen schaut mich an. „Na komm schon, was machst du gerne?“ Und ich sehe erst im nächsten Moment, dass einige ihre Werkzeuge niedergelegt haben und kleine Schlenker mit ihren Körpern machen. „Tanzen“ streift meine Gedanken, und wie auf Knopfdruck beginnen alle, sich rhythmisch zu bewegen. Im selben Takt. So großartig, so animierend, dass es auch mich packt. Und mein Körper einsteigt. Ohne dass Musik zu hören ist.
„Tanzen also?“, frage ich und kenne die Antwort. Und kurz setzt der Takt aus. Alle erstarren, blicken mich an. „Wie du es dir nimmst“, und sie bewegen sich weiter.
Und dann huscht ein Wesen ganz nah an mich heran. „Komm schon. Nun komm schon. Schau herüber.“ Und ich spüre Aufregung und Hitze und ein Kribbeln im Bauch. Und schaue in die Richtung, in die es aus meinem Blickfeld verschwindet. Auf der Stufe sind nun keine Chips mehr. Die Tüte ist leer. Die Haufen sind zu stattlichen Bergen geworden, hinter denen sich alle versammeln. Es ist ein Leuchten und Strahlen. Niemand redet. Niemand werkelt. Gespanntes Warten. Und dann holen sie alle Luft. Ich höre sie einatmen. Tief einatmen. Und halte selber die Luft an, als sie in die Berge pusten. „Sternstaub“ saust mir durch die Gedanken, benommen von dem, was jetzt passiert. Es ist ein Glitzern und Funkeln. Es ist ein Überall und um mich herum. Es ist ein Glück bis ganz tief in mich hinein. So ein ausgeglichenes, gefülltes. Es ist Licht und Wärme, und am Ende bleibt ein klarer Bergsee, den ich aus der Ferne in mir beobachte und der tiefe Ruhe ist. Und Entspannung. Ein frei Sein.
„Das. Das ist es nämlich. Darum geht es“, sagen die Engel, und ihre Flügel glitzern in der Sonne, die bald untergeht.
Ich sitze am Ufer und schaue auf den Fluss, lasse ihn ziehen. Stehe auf, strecke mich. Atme tief ein und aus, greife meine Tasche, die Chipstüte und laufe durch die Straßen zum Marktplatz. Aus mir heraus. Ich möchte das jetzt tun.
Und stehe nun hier. Mit meinem Kummer in der einen und einer Tüte voller Engel in der anderen Hand. Und räuspere mich. Huste. Und sage: „Ich werde jetzt hier gleich tanzen.“ Unterbreche mich. Dann versuche ich es erneut, lauter: „Also. Ich werde jetzt hier gleich tanzen. Und ich würde mich freuen.“ Und dabei fokussiere ich eine Person, die stehen geblieben ist und zu mir herüberschaut. Die Einzige, die mich wahrzunehmen scheint. Ich setze erneut an: „Ich werde hier gleich tanzen.“ Und jetzt hat meine Stimme Kraft. Die Person nickt mir zu. Vielleicht sehe ich ein Lächeln. „Also tanzen werde ich jetzt hier gleich“, wiederhole ich. „Und ich würde mich freuen, wenn Sie mitmachen!“ Die Person nickt erneut. Und läuft weiter.
Ich hantiere umständlich an meinem Handy, an meiner Box. In mir flackert das Gefühl, diese Situation beenden zu wollen. Da höre ich den ersten Ton der Musik.
Und dann tanze ich. Zögerlich zunächst. Ich schließe die Augen. Ich bewege mich in mich hinein. Mit dem Blick zum Bergsee. Um ihn herum. Und dann öffne ich meine Augen und sage sehr laut und sehr deutlich und übertöne den Bass: „Ich werde jetzt hier tanzen. Und es wäre großartig, wenn Sie alle mittanzen. Für die Leichtigkeit. Und diesen Moment. Und das Leben.“ Und dann tanze ich. So wie ich es brauche und mir nehme.
Und wäre das hier ein Happy End, dann würden sie kommen, nach und nach, die Leute, die mit mir tanzen. Niemand kommt. Niemand tanzt. Manche schauen. Ich tanze. Ich rutsche rein in dieses Gefühl der Bewegung, in den Einklang zwischen Körper und Sein. Tauche in den Bergsee. Sehe Bagger und Kräne und rote Mohnflecken vor meinen Augen Funken sprühen und spüre mich und das, worum es geht.
Und als die Kraft aus meinen Beinen verschwindet, stoppe ich meinen Körper. Etwas umständlich beende ich die Playlist, räume die Box in meinen Rucksack, die leere Chipstüte hinterher.
Verschwinde. Vom Marktplatz. In mir. Weiß jetzt auch nicht mehr. Und dann auf dem Weg nach Hause, da fühle ich es.
Hinter all dem Tanzen, der Musik, all den großen Gefühlen und Gedanken. Diese Verbindung. Zu dieser Welt. Eine Gewachsene. Aus Bergsee, Sternstaub und Engeln, die Chips abtragen. Meine Verbindung. Abgedroschen, denke ich kurz und leise und halte die Luft an. Abtragen, spreche ich nach innen, und mein Gehirn tanzt ein paar Schritte. Und dann atme ich entspannt weiter. Jetzt ist Mut und Verbundenheit. Und nehmen, was ich habe.
© Mirjam Sarrazin