Wenn ich heimkomme, bin ich in Begleitung, und manchmal möchte ich dann meine Ruhe, und es ist schwer, wieder alleine zu sein. Bi geht nicht gerne. Ich muss sie drängen, sich zurück zu ziehen. Sie liest jetzt ein Buch. Und ich koche. Und dann brennt mir der Tofu an, und da ist Bi sofort zur Stelle und regelt das schnell. Sowieso regelt Bi ständig alles. Bi kann alles besser als ich. Sie weiß auch mehr. Sie ist viel geschickter. Eloquenter. Ich musste das Wort googlen, Bi kennt die Bedeutung. Bi ist sozial kompetent und neugierig, und sie hat nur angenehme Gefühle. Ich bin froh, dass ich Bi habe. Wir sind ein gutes Team. Wissen, was die andere gerade macht und denkt und will.
Wenn ich mich einsam fühle auf der Feier einer Freundin und nicht so recht weiß, über was ich reden soll, dann fühlt Bi sich pudelwohl. Sie wählt ein beliebiges Thema und quatscht drauflos. Und immer stimmt jemand ein. Und wenn nicht, dann stört das Bi überhaupt nicht. Sie sucht sich etwas Neues oder steigt irgendwo mit ein. Oder sie holt sich etwas zu essen und lobt das Buffett.
Wenn mich auf einem Festival die Musik packt, und noch keiner tanzt und ich mich nicht traue, dann übernimmt Bi das. Sie geht einfach los und tanzt. Zack.
So einfach ist das alles für Bi.
Manchmal bin ich gestresst, weil der Alltag zu voll ist, und während ich Managerinnensachen mache, male ich mir aus, wie ich an einem lauschigen Plätzchen in der Sonne sitze und das Leben genieße. Schon ist Bi zur Stelle, schmeißt sich aufs nächstbeste Sofa, auf einen Teppich oder ins Gras und ist tiefenentspannt.
Als ich gestern vor der Bank stand und mich nicht getraut habe, hinein zu gehen und den Termin wegen des Kredits für das Haus wahrzunehmen, das ich kaufen will, da habe ich mich dabei erwischt, dass ich an meinen Fingernägeln knabberte. Und ich habe mich gefragt, wie ich es überhaupt geschafft habe mit dieser ganzen Unsicherheit, die man ja so mit sich herumträgt, bis hierher zu kommen. Und im nächsten Moment wusste ich es dann. Denn da ging Bi schon durch die Drehtür in die Bank, und sie konnte das natürlich alles. Was man sagen muss. Und mit dem Räuspern an der richtigen Stelle. So habe ich mir das zumindest vorgestellt. Es war dann ganz anders. Bi hat das ganz natürlich einfach so hingelegt, das Gespräch. Sie brauchte dafür nicht einmal feste Schuhe. Sie kann sowas in Flipflops, und dann hallte es flip und flop durch die Bank, und alle schauten, und für Bi war das irrelevant. Sie hat das gar nicht wahrgenommen. Für sie war alles perfekt. Das ist für mich wie Zaubern, wenn Bi die Sachen regelt. Einfach so. Flip und flop.
Ein Freund hat mir das vor vielen Jahren geraten. „Stell dir vor, dich gibt es noch einmal. Ganz genau dich. Und stell dir vor, dieses zweite Du ist immer verfügbar für dich, wenn du es brauchst, und es kann all das, womit du dich nicht gut fühlst, womit du dich schwer tust, womit du unsicher bist. Es kann sogar angenehme Gefühle haben, wenn du unangenehme hast.“
Ich war aufgrund einiger Veränderungen in meinem Leben in einer Krise, fühlte mich unbedeutend, erdrückt von Gefühlen und chronisch verunsichert. Ich nahm mir diesen Ratschlag zu Herzen, trug ihn einige Tage mit mir durch den Alltag. Im Zug, in dem es mir zu stickig und zu voll war, dachte ich an dieses zweite Ich, das es nun interessant fände, so vielen Menschen zu begegnen. Oder ich stellte mir vor, wie es sich nach einem Arbeitstag zufrieden zu Hause ausruhen würde und die Stille genießen, endlich das neue Buch lesen würde, während ich traurig war, dass keine Verabredung zustande gekommen war für diesen Abend, und ich mich einsam fühlte.
Das klappte erstaunlich gut und immer besser, und so kam Bi in mein Leben. Dass Bi diesen Eigensinn entwickeln und größenwahnsinnig werden würde, das hatte mir dieser Freund nicht gesagt. Ich habe das für mich nutzen können und überwand einige Aspekte der Krise. Es geht mir jetzt besser. Oft fühle ich mich wohl. Andernfalls kommt eben Bi.
Aber ich merke zunehmend, dass ich das nicht mehr so will. Ich schätze Bi sehr. Und würde gerne wieder mehr wagen. Meistens ist das Leben ja doch eher so halb. So ungar. So wurschtelig und pieksig und unausgegoren. Eben nicht optimal. Und auch nicht optimiert. Und das ist, was Bi immer macht. Sie optimiert. Sie ist immer zur Stelle und flipt und flopt. Ich würde es gerne einfach mal so lassen, das Leben. Mutig sein. Fühlen, was passiert.
Also lade ich Bi in das Straßencafé ein, das ich im Sommer vor der Haustür habe. Für Momente. An lauen Großstadtabenden. Und wir haben Glück, es ist geöffnet. Bi bekommt einen selbstgemachten Eistee und ich ein alkoholfreies Bier, und dann sage ich Bi, dass ich gerne mehr Freiräume hätte. Ohne sie. Dass ich diese unperfekten, undefinierten Momenten gerne wieder selber regeln möchte. Ich bin aufgeregt. Unsicher. Und natürlich ist es wie immer. Bi kann es besser als ich. Relaxt hängt sie auf ihrem Klappstuhl. „Klar. Lassen wir es einfach mal stehen. Die Sache mit dem Aushalten. Diese alte Geschichte halt“, sagt sie, und sie ist dabei weder wütend noch enttäuscht noch besserwisserisch. Sie ist einfach Bi. Und hat mein wackeliges Ringen wieder übernommen, weggewischt und selbst geregelt.
Und dann wird mir klar, dass es ja meine eigene Kompetenz war, Bi zu machen. Und all das, was Bi kann. Besser. Schneller. Sicherer. Optimierter.
Und dieser Gedanke überrascht mich so, dass ich aus Versehen ihren Eistee austrinke. Was nicht schadet, denn Bi ist plötzlich schlafen gegangen. Irgendwie ist sie müde gewesen, und das ist noch nie vorgekommen. Nun sitze ich also alleine im Straßencafé. Und das fühlt sich fremd an. Und ein bisschen aufregend. Und als ich gerade aufstehen und reingehen will, sitzt mir gegenüber eine, die ist wie ich. Absolut identisch. Und doch anders. Und nicht Bi. Und sie sagt: „Hi, ich bin Mo. Ich bin da, wenn du mich brauchst. Zuständigkeit Graustufen. Zwischentöne. Alles, was nicht fertig ist. Superkraft Verharren. Abwarten. Gefühle stehen lassen. Du kannst dich absolut auf mich verlassen. Ich bin perfekt darin, unbequeme Gefühle zu haben.“
Ich seufze. Leise. Ich sage: „Guten Abend Mo.“ Und bestelle ihr eine Limo und mir noch ein Bier.
© Mirjam Sarrazin