Klimakrise

Tomatenpflanze mit einer Blüte

Wenn ich Tomatenpflanzen rieche, denke ich an meinen Balkon, an Balsamico Essig und an Basilikum. In mir entsteht ein Gefühl von Geselligkeit, von gemeinsam in kleinen Küchen kochen, und ich denke an Rotwein. Und neuerdings an Frau Dima. Und auch Ekel und Scham haben jetzt eine Verknüpfung mit Tomaten in meinem Gehirn. Und Trauer. An einem Freitag hat sich da neurologisch was verändert bei mir und etwas in Gang gesetzt, und das weiß ich so genau, weil ich freitags immer auf den Markt gehe, und es war ein solcher Markttag, an dem ich Frau Dima traf.

Ich gehe nach dem Marktbesuch gerne im Stadtpark spazieren. Ich habe dort eine Stelle, die ich mag. Versteckt, hinter Sträuchern kann man auf einer abgestorbenen Baumwurzel am Wasser sitzen.

An diesem Freitag saß dort Frau Dima. Nicht auf der Wurzel, sondern daneben auf dem Boden. Sie schien sich gerade aufgesetzt zu haben, als ich kam, wirkte verschlafen und desorientiert. Zunächst registrierte sie mich nicht. Sie kramte in einem der Jutebeutel, die um sie herum lagen. Auch Klamotten waren verstreut. Kippen. Eine leere Flasche Wodka und eine angebrochene Packung Toastbrot.

Frau Dima, die zu dem Zeitpunkt noch ganz anders hätte heißen können, zog eine Flasche Bier hervor, drehte am Verschluss und murmelte etwas in sich hinein. Sie nahm einen Zipfel ihres Hemdes in die Hand und schraubte mit Hilfe des Stoffs erneut und vergeblich. Im Laufe dieser Geste fiel ihr Blick auf mich. Für einen winzigen Moment sah sie mich direkt an, und ich erkannte Erstaunen in diesem Blick, dann hielt sie mir die Flasche auffordernd hin. „Helfen Sie mir doch bitte mal. Meine Hände machen nicht mehr so mit.“ Ich ging zwei Schritte auf sie zu, wohlbedacht, nicht über eine der Luftwurzeln zu stolpern, die hier aus dem Boden schauten. Ich nahm die Flasche, schraubte den Deckel auf und gab sie ihr zurück.

Sie nahm, trank, seufzte. „Danke.“

Sie trank erneut und sagte: „Das ist eine der Nebenwirkungen, die mich wirklich ruinieren. Ich spüre meine Arme und Beine nicht mehr und wenn doch, dann weil sie schmerzen. Immerhin kann ich noch alleine Pinkeln.“ Sie klang nicht provokativ dabei, sondern müde. Und vielleicht traurig. Genauso dachte sie. Und sprach aus, was sie dachte. Das konnte ich zu dem Zeitpunkt aber noch nicht wissen.

„Ist das hier Ihr Platz?“ Frau Dima schaute mich fragend an.

„Ja, also. Ja, ich sitze hier ganz gerne.“ Ich war unsicher, vielleicht verlegen. Ich warf einen Blick zurück zum Weg, schaute wieder zu Frau Dima. „Ich war auf dem Markt, und danach mache ich hier gerne eine Pause. Aber ich kann mir auch etwas anderes suchen.“ Und ich lächelte und wollte gehen.

„Das stimmt, das können Sie“, Frau Dima wühlte erneut in ihrem Beutel.

Irgendwie blieb ich stehen.

Irgendwas hielt mich.

„Das können Sie wohl doch nicht so gut, nicht?“, fragte sie und sah mich ernst an. „Sorry, ich brauche hier noch eine Weile und kann leider nichts von meinen Vorräten abgeben. Ich muss mich erstmal hochpegeln.“

Und jetzt wollte ich wirklich gehen. Das war mir zu nah.

Da hörte ich es aus der Ferne. Die ersten Rufe, die Sprechchöre, das Megafon.

Und in Frau Dima kam Leben. „Jaja“, rief sie laut über die Büsche hinweg in Richtung Demo. „Ich höre euch. Ist ja Ehrensache.“ Umständlich und stöhnend erhob sie sich. Sie wankte leicht, als sie auf ihren Beinen stand, hielt sich an einem Ast fest. Stöhnte. Atmete schwer. „Das ist nicht so leicht alles hier“, betonte sie. „Gar nicht so leicht.“

Ich war überfordert mit der Situation. Ich fühlte mich wie ein Eindringling.

„Woooohaaaaa!“, schrie Frau Dima jetzt über das Gebüsch hinweg, durch die Bäume in Richtung Straße, auf der sich eine unglaubliche Menschenmenge lautstark näherte. Sie lachte. „Ihr seid großartig.“

„Ich muss nur…“, sprach sie dann leise zu sich selbst und sah sich suchend auf dem Boden um. „War wohl doch zu viel mit den Tomaten“, nuschelte sie und sah mich dann abrupt an. „Ich suche meine Mülltüte. Helfen Sie mir doch bitte mal. Mir tut alles so weh. Ich kann mich nicht bücken. Aber ich habe ganz sicher eine Mülltüte. Für das Chaos hier. Das kann ja nicht so bleiben. Da“, zeigte sie hinter eine Wurzel. „Ist das eine Plastiktüte?“

Ich drehte mich um und bückte mich. Hinter einer Wurzel lag tatsächlich eine schnoddrige Plastiktüte. In der vielleicht einmal ein Döner transportiert worden war. Dessen Reste vermutlich noch in ihr klebten.

Ich zögerte.

„Na, dann geben Sie sie mir doch bitte einmal herüber.“ Frau Dima schaute mich an.

Ich zögerte immer noch.

„Denken Sie an Sonnenblumen dabei. Große, gelbe Sonnenblumen. Wie sie strahlen. Sehen Sie das?“ Und nun schaute Frau Dima nach oben und schloss die Augen. „Ist dieses gelb nicht ganz erstaunlich?“

Ich sah tatsächlich Sonnenblumen vor meinem inneren Auge. Und zog die Plastiktüte vorsichtig hervor, darauf achtend, ihr nicht zu nah zu kommen. Gab sie Frau Dima, die abwehrte. „Halten Sie sie mal auf!“

Ich zögerte. Ich war nicht gut in solchen Sachen. Ich ekelte mich.

„Ich habe Desinfektionsmittel“, sagt Frau Dima, während sie aus ihrer Hosentasche eine leere Packung Zigaretten zog. „Nun machen Sie schon! Haben Sie die Sonnenblumen vergessen?“

Also hielt ich die Mülltüte auf, die sich zierte und klebte und schließlich doch eine Öffnung bot. Frau Dima ließ die leere Zigarettenpackung hinein gleiten. „Vielleicht helfen Sie mir schnell? Dann haben wir es ruckzuck geschafft. Ich bin noch nicht da, wo ich hinmuss.“ Und damit zog sie die geöffnete Bierflasche aus ihrer Manteltasche, präsentierte sie mir kurz und trank einen Schluck.

Währenddessen lief die Demospitze auf der nahen Kreuzung ein, und ich wurde kribbelig.

Frau Dima ging es offensichtlich ähnlich und doch ganz anders. Sie warf die Hände in die Luft und schrie: „Wir sind hier! Wir sind laut! Ist das herrlich.“

„Wobei soll ich helfen?“, fragte ich vorsichtig und musste mich aufgrund der Geräuschkulisse lauter wiederholen.

Frau Dima zeigte mit der Bierflasche über den Boden. „Müll aufsammeln. Wenn Sie das machen, geht es schnell. Ich bräuchte dafür jetzt wirklich sehr lang in meinem Zustand. Bis dahin sind die durch da oben.“

Und sie sagte das so ermunternd, dass ich mich zwang, an eine Sonnenblume zu denken. Eine aus dem Nachbargarten, in den ich von meinem Balkon schauen konnte. Mit gelben Blütenblättern, die leicht ins orange rutschten. Und dann nach und nach den Müll vom Boden aufsammelte. Kippen. Die Wodkaflasche. Einen Wurstrest. Leere Plastikverpackungen. Und alles in die Tüte stopfte. Und ein Feuerzeug aufhob. Einen Socken und gerade fragen wollte „Ist das Müll?“, da fuhr Frau Dima mit ihrer nun fast leeren Bierflasche dazwischen. „So. Warten Sie. Da nicht in der Ecke. Das mache ich selber. Da liegen meine blutigen Tücher.“

Und das mit den Sonnenblumen, das vergaß ich in diesem Moment, und ich erschrak, und kurz wurde mir übel.

„Danke“, sagte Frau Dima, jetzt wieder entspannt. „Sie sind mir wirklich eine große Hilfe“, rief sie und näherte sich schwerfällig der Ecke, in der sie die Tücher vermutete. „Ich blute oft. Aus der Nase, aber auch beim Pinkeln oder aus dem Po.“ Und sie sagte das beiläufig.

„Ich gehe dann jetzt mal wieder“, warf ich schnell dazwischen und drehte mich zum Gehen.

„Ja?“ Frau Dima wandte sich mir zu. „Das ist schade. Sie haben sich die Hände noch nicht desinfiziert. Und ich dachte, wir schauen uns die Demo gemeinsam an.“ Sie drehte sich wieder weg, beugte sich, hob etwas auf. Bewusst sah ich zur Seite. „Jetzt wo Sie mir so geholfen haben“, betonte sie. „Und ich bin jetzt auch gleich soweit. Der Pegel muss einfach immer erst stimmen.“

Ich ging trotzdem. Ich ging aus dem Gebüsch hinaus. Hoch zum Weg. Mit diesem Druck im Bauch und einem Herz, das pochte. Ich konnte die Demo jetzt durch die Baumreihe sehen. Und blieb stehen. Da war es, dieses beklemmende Gefühl. Diffus. Schwer. Drängend. Es wäre naheliegend, es auf meine Begegnung mit Frau Dima zu schieben, aber ich wusste es besser. Es war die Demo. Es waren die Rufe, die Worte, die Texte, die Inhalte. Es machte mir Angst. Klimawandel. Klimakrise. Katastrophe. Wüst durcheinander liefen Bilder durch meinen Kopf. Brennende Wälder. Verkohlte Tiere. Überschwemmungen. Hunger. Dürre. Menschen in höchster Not. Es gab in diesen Bildern keinen Anfang, kein Ende. Es gab keine Zusammenhänge. Ich konnte das nicht zuordnen. Wie die Flut, die kommen würde, liefen sie durch meinen Kopf und hinterließen Herzrasen und Angst. Ich musste weg. Nach Hause. Tomaten achteln. Würzen. Essen. Schmecken. Das wollte ich. Das war mein Plan. Ich ging los. Und hörte dieses Geräusch hinter mir. Trotz der Demolaute drang es zu mir durch. Würgen. Ich entschied, nicht hinzuschauen. Ich würde mich nicht umdrehen, sagte ich mir. Schau nicht hin! Und ich drehte mich um und schaute und sah Frau Dima, die mittlerweile hinter mir hergekommen war, raus aus dem Gebüsch und sich mit der einen Hand an diesem Baumstamm festkrallte und mit der anderen ihre Handtasche hielt. Und kotzte. Rot. Schwallartig. Ich atmete. Ich sah Sonnenblumen, was mich erstaunte. Ich überwand mich, ging über den Rasen zu Frau Dima. Ihr Körper krampfte und spuckte und ächzte. Sie zitterte. Ich hatte Sorge, dass sie fallen würde.

„Kann ich…“, setzte ich an und ging noch einen Schritt auf sie zu. Sie versuchte zu sprechen. Es gelang nicht. Der nächste Krampf hinderte sie. Der nächste Schwall. Am Ende kam nur noch Galle. Und dann nichts mehr. Irgendwann verebbten die Krämpfe. Das Würgen.

Abgekämpft sah sie aus, als sie hochschaute. Tottraurig und mit wässrigen Augen ohne Farbe. „Ich habe es übertrieben gestern Abend. Die Tomaten. Ich liebe sie so sehr. Aber es waren zu viele und der Pegel war nicht richtig. Diese Säure. Und dann die Demo. Ich bin zu schnell hoch eben. Alles dreht sich.“

Als hätte sie all ihre letzte Kraft verwendet, um mir das zu sagen, ließ sie den Kopf hängen. Und schaute mich dann doch noch einmal direkt an. „Es sind die Tomaten. Es ist kein Blut. Da müssen Sie sich keine Sorgen machen.“

Und ich war tatsächlich erleichtert und berührt, und ich nahm meine rechte Hand und hielt sie einen Moment starr in der Luft, weil ich mich unsicher fühlte. Und legte sie dann auf Frau Dimas Rücken. Seitlich. Deplatziert. So kam sie mir vor. Ohnmächtig. Wie ein Fremdkörper.

Frau Dima öffnete ihre Handtasche mit zittrigen Fingern und förderte eine kleine Flasche Schnaps zutage. Sie hielt sie mir hin. „Würden Sie nochmal?“

Ich zögerte. Ich fühlte mich schuldig.

„Bitte?“ Sie schaute mich an, und mein Blick wich ihrem aus.  

Ich nahm die Flasche, schraubte sie auf, gab sie ihr. Sie trank sie leer, packte sie zurück in ihre Tasche. Lächelte mich an. „Setzen wir uns einen Moment auf die Bank dort, ja? Das würde mir wirklich gut tun jetzt.“

Langsam richtete sie sich auf. Ging ein paar Schritte. Blieb stehen. Ging weiter. Hielt an. Schüttelte sich. „Heute wird das nichts mehr mit dem Pegel. Ich bin durcheinander geraten.“

Ich ging neben Frau Dima. Sie setzte sich auf die Bank. „Ich bin Frau Dima“, sagte sie mit dieser festen, tiefen Stimme. Und dann hielt sie mir ihre Hand hin und lachte mich an. Mit diesen farblosen Augen. Und zog die Hand wieder weg. „Ach entschuldigen Sie. Das wollen sie wahrscheinlich nicht, oder? Trotz der Sonnenblumen?“

Und dann zog sie eine weitere Schnapsflasche aus ihrer Tasche, und ich öffnet sie, und sie hielt sie hoch, der Demo zugewandt, die nun fast an uns vorbei war. „Prost ihr tollen Menschen. Prost. Auf euch. Auf euch. Ihr seid meine Helden. Nächstes Mal bin ich auch wieder dabei.“

Und zu mir gerichtet: „Nicht wahr?“ Und dann exte sie den Schnaps und schüttelte sich. „Jetzt geht es wieder.“

Ich sagte nichts. Ich fühlte mich wackelig, unwohl, wie auf dem Sprung und doch gefangen. Betroffen.

„Das ist doch großartig, was da passiert, oder? Diese Leute haben so viel Hoffnung! Sie haben so viel Mut, und sie glauben an das, was sie machen. Die können was schaffen. Oder?“

Und grünes Feuerwerk huschte durch ihre Augen.

Ich fühlte mich sprachlos. Fand keine Worte.

Da schaute Frau Dima mich an. „Was ist mit Ihnen? Ist es die Situation eben? Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Das gehört leider zu mir dazu.“

Ich schüttelte den Kopf, errötete. Schaute zum Wasser, quer über den Rasen zu den Spaziergänger*innen auf der anderen Seite. „Nein. Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht richtig sagen.“

Und dann sagte ich es doch. Was ich noch nie formuliert hatte. Weil es mich verletzlich machte. Weil es unpopulär war. Weil meine Leute andere Narrative verwendeten. „Es macht mir Angst. Diese ganze Klimasache macht mir eine wahnsinnige Angst. Ich kann da nicht drüber nachdenken. Ich kriege Herzrasen, wenn ich so eine Demo sehe. Ich fühle mich ohnmächtig und hilflos.“

„Ach das.“ Frau Dima lachte laut auf, und überrascht schaute ich ihr direkt ins Gesicht.

Ihre Augen strahlten plötzlich. „Das ist das mit der Angst.“

Wir schwiegen. Einen Moment.

Dann sagte Frau Dima: „Ich habe gerne gestrickt früher. Ich bin im Heim groß geworden. Da gab es wenig zu lachen für mich. Es gab viele große Jungs und die haben mit den Kleinen gemacht…“ Sie stockte. „Naja. Ich habe gerne in einer Ecke im Speisesaal gesessen und gestrickt. Da war niemand, und ich war immer irgendwie sicher da. Ich habe diese knalligen Farben geliebt. Bunt durcheinander gemischt. Und vor dem Fenster, an dem ich saß, da war der Garten. In dem wir spielen durften. Der war mir unheimlich. Da gab es zu viele Gebüsche. Nur von meinem Posten in dem Saal aus mochte ich ihn beobachten. Da waren auch diese Farben. Und ich habe sie zu mir hinein geholt und in die Deckchen gestrickt. Und genauso habe ich mir meine Landschaften innen gestrickt. Es ist das gleiche Prinzip. Diese Psychologen haben mir das versucht beizubringen in den Kliniken früher. Ich habe ihnen nicht geglaubt, dass das helfen kann. Bis ich es gemerkt habe. Wie Stricken eben. Ich habe alles in mich hineingestrickt, was ich brauche. Es hat etwas mit Loslassen zu tun. Mit Hoffen. Es ist keine große Sache. Man muss nur verstehen, dass es wie Stricken ist. Es ist eigentlich etwas sehr Kleines und gegen diese laute, große Welt kommt es auch nicht an. Ich bin damit nicht dagegen angekommen. Aber ich hatte sowieso nie eine Chance. Das war schon ganz früh klar. Aber das in mir. Das kann mir keiner nehmen. Das ist meins. Und da sind so viele kleine Momente innen. Die habe ich mir aus dem Außen ins Innen gestrickt.“

Und Frau Dima machte Strickbewegungen mit ihren Händen, und ich sah ihre Schmerzen in den Fingern. „Es ist vieles leer geblieben in meinem Leben. Ich weine viel. Ich bin oft traurig. Dafür verstecke ich mich. In so Gebüschen.“ Und sie zeigte auf die Stelle, an der ich sie getroffen habe. „Diese Gebüsche. In denen ich auch schlafe.“ Sie holte tief Luft. „Meistens reiße ich mich zusammen. Und gehe lieber nach innen. Im Außen habe ich wenige Chancen. Innen habe ich diese Brücke. Da gehe ich drüber. Und dann bin ich sicher. Vor mir. Auch vor mir. Und den ganzen Gefühlen. Das ist so mit dem Alkohol. Der konserviert die Gefühle, und dann sind sie in so einem Kellerregal gut verstaut. Tür zu. Und ab über die Brücke.“ Frau Dima lachte, und mein Bauch kribbelte.

„Meine Gefühle sind ewig haltbar“, lachte sie. „Hauptsache, die kommen da nicht raus. Damit bin ich durch. Das packe ich nicht. Das habe ich für mich so entschieden. Ich bleibe lieber innen in meiner Sicherheit.“

In mir war etwas ruhig geworden, nachdenklich. „Aber ich kann mich doch nicht in meinem Inneren verstecken. Das hilft doch niemandem“, sagte ich und fühlte mich verloren in diesen Sätzen.

Frau Dima setzte sich umständlich in eine andere Position. Sie stöhnte.

Wir schwiegen eine Weile.

Frau Dima holte Luft. „Schauen Sie mal.“ Und sie zeigte vorne zum Wasser. „Sehen Sie die Blässhuhnfamilie dort? Wie die Eltern unermüdlich das Nest nachbessern und Futter besorgen? Was für eine Arbeit. Rund um die Uhr.“

Ich sah die Blässhuhneltern und zählte fünf Junge und beobachtete sie. Plötzlich tauchte etwas Dunkles kurz neben dem Nest an der Wasseroberfläche auf. Ich streckte mich, um besser sehen zu können. „Was ist das?“, fragte ich Frau Dima und zeigte auf die Stelle.

Frau Dima reckte ihren Kopf und zog ihn dann wieder ein. „Das ist eine Schildkröte. Hier leben wilde Schildkröten.“ Ich sah sie erstaunt an. Das hatte ich nicht gewusst und erkannte den kleinen Schildkrötenkopf, der aus dem Wasser ragte.

„Fressen sie Küken?“

Frau Dima zuckte mit den Schultern. „Manche sind Raubtiere.“

Ich fühlte mich unwohl. „Ich möchte hier lieber nicht sitzen und dabei zuschauen, wie ein Baby gefressen wird“, sagte ich und wunderte mich über meine Emotionalität. Und über meine Offenheit.

„Ja. Das wäre traurig.“ Frau Dima nickte und setzte sich wieder um.

„Schauen Sie doch mal“, sagte sie lachend und machte eine Kopfbewegung Richtung Nest. „Das eine Kleine ist besonders neugierig. Es will immer hinter dem Papa her. Und dann bleibt es plötzlich stehen und schwimmt doch wieder zurück zum Nest. Es traut sich nicht so recht.“

„Aber ich kann doch nicht dabei zusehen, wie gleich ein Küken gefressen wird“, beharrte ich.

Frau Dima schaute mich kurz an und dann wieder zum Wasser. „Aber das müssen Sie doch auch nicht. Sie können die Augen schließen. Aber schauen Sie doch jetzt einmal hin. Es ist ganz wundervoll, das Kleine zu beobachten. Und die Mama. Wie sie baut und ausbessert und dabei ständig die Kleinen überrennt.“ Frau Dima lachte auf. „Sie purzeln richtig.“

Dann hielt sie inne. Wandte sich mir zu. Sagte ernst: „Speichern Sie das. Stricken Sie sich daraus etwas innen. Schieben Sie sich dieses Bild innerlich vor diese Vorstellung, die Sie da haben, wie eins gefressen wird. Das müssen Sie nicht haben. Wie ein Dia, das man in so einen Projektor schiebt. Kennen Sie das noch? Diesen Vorgang? So machen Sie das. Speichern Sie diese Farben da vorne. Diese Bilder. Diese Bewegungen. Können Sie fühlen, wie flauschig diese Babys sind? Jaja, sie sind auch sehr verletzlich. Schutzlos. Aber schauen Sie doch mal, wie sehr diese Eltern arbeiten. Ununterbrochen.“ Und Frau Dima betonte das Wort. Und wiederholte es: „Ununterbrochen. Tag und Nacht. Das ist Einsatz. Das hält die Welt am Laufen.“ Frau Dima stand auf. Streckte sich. Setzte sich wieder.

„Ja aber“, sagte ich. Ganz klassisch. „Ja, aber“, sagte ich, und Frau Dima hörte mich an und unterbrach mich nicht. „Ja, aber wir machen uns kaputt. Wir haben uns zerstört. Wenn es schon zu spät ist. All das Leid. Das ertrage ich nicht. Ich kann dabei nicht zusehen. Ich habe so eine Angst. Auch vor dem Sterben.“

„Das ist Ihre Entscheidung“, sagte Frau Dima und sie sagte es freundlich und doch knallte es wie eine Ohrfeige. „Schieben Sie die Blässhühner davor. Stricken Sie sich eine Blässhuhnlandschaft. Sie können sich doch gut um sich kümmern.“ Und nun ließ Frau Dima ihren Blick von oben bis unten über mich hinwegwandern. „Ja, das können Sie doch“, unterstrich sie ihre Feststellung und dann war da wieder dieses Funkeln in ihren Augen. „Vielleicht ein kleiner Garten für den Anfang? Sie müssen nicht gleich ganze Landschaften stricken. Aber so etwas Kleines? Manche Leute haben doch Pflanzen auf ihren Fensterbänken in der Küche. Vielleicht wäre das etwas für Sie? Eine innere Fensterbank.“

In meinem Kopf tauchte meine Küche auf. Das Fenster, aus dem ich auf den Supermarkt gegenüber schaute. Angestrengt stellte ich mir Basilikum vor. Auf der Fensterbank. Grün. Frisch. Duftend. Und eine Sonnenblume daneben. Irgendwoher tauchte diese Sonnenblume auf. Ich dachte an Tomaten, und dann lief plötzlich eine Demo durch meine Küche. Unvermittelt schüttelte ich den Kopf. Und musste lachen. Aus meinem Bauch stieg dieses Glucksen auf. So ein Gurgeln und das, was eben noch Kribbeln war, wurde jetzt Lachen. Und dann plötzlich ein Schluchzen. Und ein Seufzen.

Frau Dima schaute mich wieder an. „Ja. Ich glaube, das ist ein guter Weg für Sie mit der Fensterbank.“ Sie nickte und stand auf, und vorsichtig streckte sie sich wieder. „Ich hole mir jetzt meine Portion beim Bus vorne an der Ecke. Brauche was im Magen.“ Sie machte ein paar Schritte, deutete ein Winken an. „Tschüss. Bis bald.“

Und dann ging sie. Und auch ich ging. Ich wollte nicht alleine sein mit dem Blässhuhnnest und meiner Angst. Und den Sonnenblumen und dem Basilikum auf meiner Fensterbank. Das ließ mich nicht mehr los.

Auch Frau Dima ließ mich nicht mehr los. Sie war ständig in meinem Kopf. Wenn ich mir diesen kleinen Garten auf meiner Fensterbank vorstellen wollte, tauchte anstelle dessen Frau Dima auf. Ich kaufte mir eine Basilikumpflanze im Supermarkt gegenüber, stellte sie auf meine Küchenfensterbank, verteilte sie vorsichtig auf vier Töpfe mit Erde, als sie anfing zu welken, und hatte dabei immer nur Frau Dima in meinen Gedanken. Sie hatte sich dort festgesetzt. Als hätte sie sich in mich hineingestrickt.

Also ging ich einige Tage später zu diesem Angebot, diesem Bus, den Frau Dima erwähnt hatte, der nachmittags an der Ecke beim Bahnhof stand, warmes Essen und Kaffee verteilte. Ich hielt Ausschau nach Frau Dima. Erst bei meinem dritten Versuch, zwei Wochen später, sah ich sie. Schon von weitem erkannte ich sie, und schon von weitem erkannte ich, dass es ihr nicht gut ging. Sie sah mich nicht. Sie sah niemanden. Sie war, als wäre sie nicht da. Sie saß auf einer Betonmauer, schlürfte Kaffee und schüttelte unmerklich den Kopf, als ihr ein Teller mit Suppe angeboten wurde. Sie hatte den Kopf gesenkt. Sie sah erschöpft, krank und traurig aus.

Auf der anderen Straßenseite stehend, überkam mich das Bedürfnis, meine Hand auf ihren Rücken zu legen. Seitlich.

Ich drehte um und ging langsam nach Hause über einen Umweg durch den Park. Aus dem das Blässhuhnnest verschwunden war. Mir kamen die Tränen, und ich ärgerte mich darüber, gucken gegangen zu sein. Ich hätte damit rechnen können. Da tauchten Sonnenblumen in meinem Kopf auf. Und wieder diese Demo, die durch meine Küche lief. Und ich roch Basilikum und Tomaten. Und ich schaute nach oben in die Sonne und atmete tief durch. Und hatte das Gefühl, etwas Weiches, Kuscheliges, Warmes zu spüren.

Es erstaunte mich selber, und ich war nervös, als ich realisierte, was ich tat. Ich hatte es eilig. Nicht dass es wieder verschwinden würde. Dass ich es mir selber nehmen würde. Ich stellte mir vor, wie ich Stricknadeln festhielt, ohne jemals stricken gelernt zu haben. Lange, dicke, graue Stricknadeln, und ich nahm einen Basilikumstängel und wickelte ihn wie einen langen Faden auseinander. So dass er wuchs und spross und sein Duft sich tief in meinem Gehirn festsetzte. So verbrachte ich den Heimweg und als ich zu Hause vor meinem Basilikum stand, lachte ich über mich. Warm. Und weich.

Ich bin in den folgenden Tagen immer wieder gucken gegangen am Bus. Frau Dima war manchmal da. Manchmal war sie ansprechbar. Grüßte mich. Einmal sagte sie: „Ich habe an Sie gedacht. Was Sie wirklich üben können, ist keine Angst vor Veränderungen zu haben. Es ist sowieso nichts sicher hier draußen. Es kommt, wie es kommt. Ich würde so gerne einmal mit Ihnen zu einer der Demos gehen. Bis dahin üben Sie das mit den Veränderungen. Fangen Sie klein an. Gehen Sie einfach mal andere Wege, wenn Sie zur Arbeit gehen. Oder kaufen Sie mal etwas anderes ein. Etwas, dass Sie gar nicht kennen.“

Frau Dima blieb immer höflich. Sie war ehrlich. Sie erzählte mir Kleinigkeiten aus ihrem Leben. Oder worüber sie nachdachte. Manchmal lachten wir zusammen mit anderen, die zum Bus kamen und Kaffee tranken. Und immer wieder nahm Frau Dima mich nicht wahr. Immer wieder ging es ihr schlecht. Oder sie tauchte nicht auf.

Ich sagte zu Frau Dima: „Sowas wie mit Ihnen hier, sowas habe ich noch nie gemacht. Das ist etwas Neues für mich.“ Frau Dima konnte darüber schmunzeln, und ich sah dieses Funkeln in ihrem Blick. Frau Dima machte so etwas ständig. Davon war ich überzeugt. Frau Dima kannte alle und jeden, und sie lebte überall und nirgendwo, und sie hatte auch eine Wohnung, aber die schaute sie immer so komisch an. Wie sie mir erzählte. Frau Dima war lebendig. Und dann wieder leer und wie ausgestorben. Das Wort benutzte sie selber. „Ich bin längst ausgestorben.“ Einmal traf ich sie zufällig auf dem Marktplatz, auf dem Klimaaktivist*innen eine Aktion durchführten. Frau Dima stand in einiger Entfernung dazu. Beide Beine fest auf dem Boden. Die Arme verschränkt. Und sie strahlte. Ihre Augen funkelten grün und blau, und diese Lebendigkeit, die von ihr ausging, versetzte mich in kribbelige Aufregung. Ich hatte nicht viel Zeit, blieb kurz stehen bei ihr, und mit diesem machtvollen Ausdruck sah sie mich an. „Das da. Das hilft. Ich liebe diese Leute alle. Diese ganze Hoffnung, die sie haben. Das hier, das da. Das hilft. Und die haben es verstanden. Sie sind meine Sieger. Hoffentlich gewinnen sie.“ Frau Dimas Worte überschlugen sich. „Ich könnte sie alle knutschen. Und schauen Sie sich die mal ganz genau an. Die denken doch auch alle an Sonnenblumen, während sie da stehen. Die haben alle auch solche Landschaften in sich drinnen. Wundervolle, riesige Landschaften voller Leben. Alles voller Brücken und Felder und Wiesen. Und Schwanenbabies. Die sind grau am Anfang. Wussten Sie das? Und sie sind ganz wunderbar, und sie leben in diesen Landschaften. Anders sind die Energie und die Power dieser Leute nicht zu erklären. Wir brauchen das alle. Dann kann sich was ändern. Dann kann sich wirklich etwas ändern.“

Und dann schaute sie mir ins Gesicht, wirkte konzentriert, bedacht. „Und wenn wir alle zugrunde gehen. Diese Energie hier. Die wird uns überleben.“

Frau Dima ist vor vier Tagen gestorben. Sie haben sie hinter einem Gebüsch gefunden. Sie lag in ihrem Erbrochenen. „Kollabiert“, erzählt mir einer, der sich gerade den Kaffee am Bus geholt hat, und den ich gefragt habe, ob er Frau Dima heute gesehen hat. „Der Organismus ist kollabiert“, erzählt er. „Da war wohl nichts mehr zu machen.“ Und seine Hände zittern, als er in den Becher pustet. „Sie war eine von den Guten.“ Und kurz schaut er mir in die Augen, bevor er sich abwendet mit seinem Kaffee. „Sie war eine von diesen Guten.“

Und dann ist Freitag und die große Demo findet statt und mit wackeligen Beinen laufe ich durch den Park zu der Kreuzung, über die sie ziehen werden. Und ich habe auf der Wildblumenwiese in der Nähe meines Hauses Blumen gepflückt. Die, die fast verblüht sind. Die ich jetzt in meinen Händen halte. Als dicken Strauß zusammenhalte. Und an Frau Dima denke. Und an Sonnenblumen. Und meinen Basilikum, der mir auf der Fensterbank eingegangen ist. Während er in meiner Vorstellung wächst und gedeiht. Hochkonzentriert halte ich mich an ihm fest. Während ich mich der lauten Menge nähere. Und sie erkenne hinter den Bäumen. Und dann direkt daneben stehe. Und auf sie zugehe. Und den Menschen dort Blumen schenke. Ich verteile sie unter ihnen. Mit den Sonnenblumen in meinem Kopf. Manche Demonstrant*innen registrieren mich nicht, manche lehnen ab, manche nehmen eine Blume, lachen, rufen mir etwas zu, bedanken sich, ziehen weiter. Und dann kommt eine Demonstrantin auf mich zu, löst sich aus der Menge, lächelt mich an. „Laufen Sie doch mit uns. Kommen Sie! Wir sind viele. Und wir werden immer mehr.“ Und sie winkt mich zu sich, hinter ihr her. Und ich folge. Mit meinen Blumen. In meinen Händen. Und in meinem Kopf.

Und vielleicht ist das keine große Sache hier, denke ich. Und vielleicht ist es ein Widerspruch, dass ich einen Zugang über sterbende Blumen gefunden habe. Und über Frau Dima, die ihre Gefühle konserviert hat.

Und dann bin ich mitten drin. Und laufe. Setze Schritt vor Schritt und staune.

Es ist dieses Kleine, dieses Leise in mir. Das sich verändert hat. Und das Teil von diesem Großen ist. Jetzt und hier. Für ein Morgen. Mit Hoffnung. Und all diesen Menschen und ihrer Gemeinschaft. Und dann sehe ich plötzlich Frau Dima mitten in der Demo. Wie sie lacht und strahlt und laute Parolen ruft und nach Tomatenpflanzen duftet.

© Mirjam Sarrazin

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