Es ist 15 Uhr und sechs Minuten, als er in der Küche vom Stuhl aufsteht und in den Flur geht. Dort sieht er, wie sie sich die Sommerjacke überzieht. Vor ihr stehen die beiden Rollkoffer, die sie vor elf Jahren für ihre Flugreise gekauft haben. Im Jahr darauf haben sie sich ein Wohnmobil angeschafft, eine Leidenschaft entwickelt und nie wieder anders Urlaub gemacht.
Der eine Rollkoffer gehört ihr, der andere ihm. Das geht ihm durch den Kopf, als er fragt: „Wo willst du denn jetzt hin?“, und sie nicht antwortet. Und er weiß, dass die Antwort auf diese Frage keine Relevanz hat. Was bleibt, sie geht.
Mit gepackten Koffern. Mit zwei gepackten Rollkoffern, die einst ihr und ihm gehörten. Diese Besitzverhältnisse haben sich vor dem Hintergrund der aktuellen Situation aufgelöst. „Nimm gerne meinen Koffer auch“, denkt er und ärgert sich über sich.
Sie konnten nie miteinander sprechen. Sie haben es trotzdem gut bewältigt, das Zusammenleben. Findet er. Und stampft unbemerkt mit dem Fuß auf. Wie er das schon als Kind gemacht hat.
Sie öffnet die Haustür, und er fragt sich, wie sie beide Rollkoffer durch die enge Haustür manövrieren wird. Wie selbstverständlich greift sie nur nach einem. Nach seinem. Zieht ihn hinter sich her, über die kleine Schwelle. Über die sie vor einigen Jahre gestolpert ist und zum Glück auf ihn fiel. Sonst wäre womöglich etwas passiert. Das erwähnen sie immer mal wieder, wenn sie nach Hause kommen. Und seufzen. Gekommen sind. Seufzt er.
Den zweiten Rollkoffer lässt sie zunächst stehen, öffnet das quietschende Törchen des Vorgartens. Reflexartig greift er nach dem hinterbliebenen Koffer. Nach ihrem. Spürt den kühlen Griff in seiner überhitzten Hand. Zieht ihn hinter sich her. Und denkt daran, den Haustürschlüssel mit dieser automatisierten Geste mitzunehmen. Trägt den Schlüssel über die Schwelle, zieht den Koffer. Öffnet das Törchen, das hinter ihr zugefallen ist. Stellt ihren Rollkoffer neben seinen und fragt sich, wie es jetzt weiter geht. Und unterdrückt sein drängendes „Wo willst du denn hin?“ Ohne es loszuwerden. Aus seinem Kopf.
So sei er. So festgefahren. Das hat sie ihm gesagt. Manchmal hat sie darüber gelacht. Manchmal hat es sie wütend gemacht. Auch verzweifelt. Und jetzt geht sie also.
Sie geht.
Und wie jetzt weiter? Er fragt das nicht. Er schweigt, und in ihm ist es laut.
Und dann kommt ein Taxi und hält vor ihnen. Vor den Rollkoffern, die jetzt beide ihr gehören. Sie muss es gerufen haben. Ein junger Taxifahrer steigt schwungvoll aus. Kommt um den Wagen herum. „Guten Tag junger Mann.“ Das würde er jetzt sagen. Wenn es seine Taxifahrt und sein Rollkoffer wären.
Mit stummen Augen verfolgt er das Geschehen. „Guten Tag“, grüßt der Taxifahrer, und seine Augen fragen, ob die Rollkoffer eingeladen werden sollen.
„Bitte, ja.“ Sie antwortet, und sie wirkt, als habe sie nie etwas anderes getan. Er bewundert sie dafür. Bis heute. Diese Lebendigkeit. Die Souveränität. Er konnte atmen an ihrer Seite.
Sie steigt ein, während der Taxifahrer die Rollkoffer im Kofferraum verstaut. Sie vertraut, dass das läuft. Der Taxifahrer schlägt den Kofferraum zu. Und sie die Beifahrertür neben sich. Vor ihm. Zwischen ihnen. Sie schaut nach vorne. Dann nickt sie ihm zu, ohne ihn anzusehen. Durch das geschlossene Fenster.
Der Fahrer geht um den Wagen, hebt die Hand, grüßt, steigt ein. Selbstverständlich.
Und fährt los.
Sie fährt ab.
Mit den Rollkoffern.
„Wo willst du denn jetzt hin?“, flüstert sein Mund die Worte. Dem Taxi hinterher.
Dann geht er ins Haus. Die Haustür ist offen. Er hängt den Schlüssel an den Haken, schließt die Tür. Setzt sich auf den Stuhl in die Küche. Schaut auf die Uhr. 15 Uhr 21. Zeit für Tee.
Er steht auf, befüllt den Wasserkessel, stellt ihn auf den Herd, schaltet die Platte ein.
Setzt sich wieder auf seinen Stuhl. Sieht hinaus in den Garten. Brombeeren. Heute wollten sie den ersten Schwung Marmelade kochen in diesem Jahr.
Sie hatte gestern die Gläser ausgekocht, die sich auf Ablagen und Küchentisch stapeln.
Er gießt Tee auf. Er nimmt seine Teetasse vom Haken über der Spüle. Neben dem Haken mit ihrer Teetasse. Er hängt seine Tasse zurück.
Der Tee dampft in der Kanne auf dem Tisch neben den abgekochten Marmeladengläsern.
Er schlüpft in seine Gummistiefel an der Terrassentür. Dabei stößt er gegen ihren linken Stiefel, der wackelt und umkippt.
Er öffnet die Tür, tritt auf die Terrasse. Es hat heftig angefangen zu regnen. Einer dieser plötzlich einsetzenden Sommerregen. Er atmet die feuchte Luft ein. Lässt die Schultern fallen, geht quer durch den Garten zur Brombeerhecke, stellt sich in Position und beginnt zu pflücken. Die große Schüssel in der Hand. Eine saftige Beere nach der anderen nimmt er vom Strauch. Hebt Blätter an, zieht Ranken vorsichtig zur Seite, sucht alles ab. Überraschend Große hängen oft versteckt im Dunkeln. Er zerkratzt sich die Hände, die Unterarme. Manchmal packt ihn die Hecke in den Haaren und lässt erst nach einem Moment des Schreckens wieder los.
Er trägt gerne Handschuhe bei der Gartenarbeit. Beim Bolzen als Kind musste er ins Tor, weil die anderen auf dem Feld schneller und geschickter waren als er. Irgendwer lieh ihm Handschuhe, nach denen er sich zu Hause nicht zu fragen wagte. Mit den Handschuhen war er wer. Wie verwandelt. Er machte akrobatische Bewegungen im Tor. Sprang, drehte sich, wirbelte herum, kickte in die Luft. Stark, anmutig. Und ließ jeden Ball durch. Er war nicht bei der Sache. Er musste die Handschuhe wieder abgeben und spielte zwei Sommer lang mit den Mädchen unten am Bach.
Er mag dieses Gefühl von schweren Handschuhen. Sie machen ihn leicht. Verwandeln ihn. Für einen kurzen Moment. Brombeeren aber pflückt er ohne. Er möchte keine zerdrücken. Jede einzelne sorgsam in die Schüssel legen. Bis keine mehr da ist. Keine, die reif ist. An guten Tagen nannte sie ihn akribisch, an weniger guten pingelig, und an vielen sprach sie gar nicht, und er hörte dennoch ihre Worte. Verstockt, vertrocknet, erstarrt. Auch jetzt hört er sie, als er Beere um Beere abnimmt und in die Schüssel legt. Manche springen ihm entgegen, so reif sind sie.
Es regnet in Strömen. Er ist pitschnass. Durchgeweicht. Die Brombeeren weinen.
Dann rutscht ihm eine aus den Fingern und fällt zu Boden. Der dunkle Saft haftet an seiner Hand. Er hält inne. Überall Wasser. Er kann den kochenden Brombeersud schon riechen. Er weckt dieses Gefühl in seinem Bauch. Und diese Frage. „Wo willst du denn jetzt hin?“
Ihm wird kalt. Plötzlich schmerzen die Brombeerkratzer auf der Hand. Plötzlich ist sein Magen leer vom nicht getrunkenen Tee. Plötzlich ist alles anders. Was vorher war. Irgendwas hat sich verändert, denkt er, da ruft der Nachbar von seiner überdachten Terrasse herüber: „Nanu, im Regen bei der Arbeit?“
Er sieht kurz auf von der Hecke, nuschelt etwas Unverständliches. Er hat das lange geübt. Worte suggerieren, wo keine sind. Der Nachbar schließt die Terrassentür. Das kann er hören. Er ist jetzt drinnen und berichtet seiner Frau. Das weiß er, ohne hinzuschauen, und er macht diese kleine Stampfbewegung mit dem Fuß. Wie damals, als er dieses kleine Kerlchen in kurzen Hosen und Widerstand zwecklos war. Und dann nimmt er eine saftige Beere vom Strauch. Eine besonders große. Eine, die gemalt sein könnte. Ein Kunstwerk. Süß und köstlich. Und er hält sie im Pinzettengriff direkt vor sein Gesicht. Schaut zu, wie der Regen an ihr abperlt. Und er lässt los. Schaut zu, wie sie auf der dunklen Erde aufkommt. Nicht platzt. Nicht matscht. Nur aufkommt. Liegen bleibt. Still. Das sieht er sich an. Einfach so. Jahrelang hat er penibel Beere um Beere gepflückt, verkocht. Nun hat er eine fallen gelassen. Wo sie liegen bleibt.
Irgendwas ist anders geworden, denkt er und nimmt die Schüssel in beide Hände und geht ins Haus. Streift die Stiefel achtlos ab, stellt die Schüssel ins Spülbecken unter die hängenden Teetassen. Er mag jetzt nicht mehr pflücken. Es ist so ein Unmut in ihm. Er setzt sich auf seinen Stuhl, schaut nach draußen in den Regen, und der Himmel wird schon wieder heller. Da hängen noch reife Brombeeren an der Hecke, und er sitzt hier und möchte nicht mehr. Das ist neu. Das kennt er nicht.
Er befühlt die Teekanne, und sie ist noch warm. Er steht auf, um sich seine Teetasse zu holen. Stoppt auf halbem Weg, dreht sich um und schlüpft in die matschigen Gummistiefel, öffnet die Terassentür und läuft zur Brombeerhecke. Erneut pflückt er eine Beere. Einfach eine. Irgendeine, die reif ist. Hält sie sich vors Gesicht. Und lässt los. Schaut, wie sie landet.
Er kehrt zurück in die Küche. Gleicher Ablauf wie zuvor. Jetzt wird der Regen deutlich weniger. Er stellt sich vor, wie Vögel kommen und auf dem Zaun an der Hecke landen. Mit ihren eleganten Vogelfüßen geschickt im Zaun krallen und die reifen Früchte picken. Vor allem sind es Krähen, die er sieht. Wie sie sich gesellig über die Mahlzeit hermachen. Würmer erhoffen, Flüssigkeit aufnehmen, süßen Brombeersaft schmecken.
Sollen sie. Denkt er. All die Jahre hat er ihnen nichts gelassen. Sollen sie sich bedienen. Und er stellt sich vor, wie sie die Beeren verdauen und mit ihrem Kot aus der Luft in der Gegend verteilen.
Er kocht die gepflückten Brombeeren ein. Die Eingefrorenen taut er nicht auf. Er fühlt sich erschöpft, bereitet sich ein schlichtes Abendbrot zu, sieht ein wenig fern und geht früh zu Bett. Er schläft. Traumlos. Als er aufwacht, zieht es ihn raus in den Garten. Die klare Luft atmen. Und zu den Brombeeren. Er nimmt eine, sagt „Guten Tag“. Und lässt sie fallen.
So vergehen die Tage. Ohne sie. Nachdem sie gegangen ist. Er macht weiter. Er trinkt Tee. Obwohl etwas anders geworden ist. Und jeden Morgen nach dem Aufstehen geht er in den Garten und pflückt eine Brombeere. Und lässt sie los. Der Rest bleibt für die Vögel. Die ihren Kot verteilen. Vielleicht auch dort, wo sie gerade spazieren geht, denkt er, als der Nachbar auf der Terrasse auftaucht: „Nanu? Schon so früh unterwegs?“
Sie hat sich nicht gemeldet bei ihm. Seitdem das Taxi kam. Und sie mitnahm. Und seinen Rollkoffer. Seitdem er in einem Haus voller Paare lebt. Gummistiefel, Teetassen, Betten.
Heute pflückt er eine Brombeere von ganz unten, hält sie vorsichtig zwischen seinen Fingern und spaziert die Straße hinunter, an dem Maisfeld vorbei, zu der kleinen Brücke. Er schaut zum Wasser hinunter. Wie es glitzert und fließt. Hält die Brombeere hoch, schaut sie an und lässt dann los. Gerade fällt sie hinunter ins Wasser, verschwindet, und er denkt daran, wie er mit seinem Sohn dieses Spiel gespielt hat, als dieser noch klein war und in der Karre saß und alles runterschmiss. Das Stück Brot, den Haustürschlüssel, den Schnuller, das Stofftier, das rote Spielzeugauto. Er hat es wieder aufgehoben. Auch beim siebten oder zehnten Mal. Er mochte dieses Miteinander. Erst später hat er erfahren, dass alle Kinder das machen. „Sie üben Loslassen“, denkt er und malt sich aus, wie Fische seine Brombeere finden und anknabbern. Wie einer von ihnen geangelt wird flussabwärts am Steg und mitsamt des Brombeerstückchens in eine Küche getragen wird. Vielleicht in die, in der sie gerade isst. Oder seufzt.
Am nächsten Morgen nimmt er ihre Teetasse vom Haken über der Spüle, geht mit ihr zur Brombeerhecke und befüllt sie randvoll mit den saftigen Beeren. Anschließend kehrt er zurück ins Haus, streift sich die Gummistiefel ab, läuft nach vorne zur Haustür, achtet auf die Schwelle und den Haustürschlüssel und stellt dem Nachbarn die volle Tasse auf Socken vor die Tür. Der Stachelbeeren, rote und schwarze Johannisbeeren und einen alten Baumbestand hat. Aber keine Brombeeren. „Nanu? Was machen die Brombeeren vor meiner Tür“, wird er vielleicht sagen. „Ich übe“, würde er antworten, denkt er, als er auf seinem Stuhl in der Küche sitzt und in den sonnigen Garten schaut. Zu den Krähen.
Loslassbrombeeren.
© Mirjam Sarrazin