Zeug

Kapkörbchen mit lila orangenen Blüten

„Liebe Familie im Backsteinhaus,

ich möchte ehrlich mit Ihnen sein, und ich falle gleich mit der Tür ins Haus. Sprichwörtlich. Ich habe mir illegal Zugang zu ihrem Treppenhaus verschafft und dort Blumen gesät. Vermutlich wohnen Sie zur Miete in Ihrer Wohnung im ersten Stock. Und das Treppenhaus ist eine Grauzone, was die rechtliche Lage betrifft, da sich im Erdgeschoss ein Geschäft befindet, und der Zugang zu diesem Geschäft über genau das Treppenhaus verläuft, das auch Sie nutzen, um zu Ihrer Wohnung zu gelangen. Allerdings über eine eigene Zugangstür am Fuß Ihrer Treppe, und die ist privat. Dessen bin ich mir bewusst.

Wir kennen uns. Oder sagen wir, wir haben uns schon gesehen. Ich habe vor neun Wochen über die Kleinanzeigen eine Vase bei Ihnen gekauft. Sie wollten 15 Euro für dieses wunderschöne Stück, und ich habe Ihnen zwölf geboten. Sie waren einverstanden. Ich habe die Vase an einem frühen Sonntagabend bei Ihnen abgeholt. Ich trug Jeans und einen dunklen Blazer. Außerdem schlichte Sneaker. Ich kam vom Schwimmen, und meine Haare waren zerzaust, da ich sie nicht gekämmt hatte und direkt aufs Fahrrad gestiegen war.

Nachdem ich bei Ihnen geklingelt hatte, hörte ich zügig den Türsummer und trat in Ihr Treppenhaus. Unten war es akkurat aufgeräumt, sobald ich die angelehnte Zwischentür überwunden hatte und die Treppe betrat, begrüßte mich eine überraschende Menge an Zeug und begleitete mich bis hoch zu Ihrer Wohnungstür.

Wir wickelten den Kauf ab, und Sie engschuldigten sich für das Chaos im Hausflur. Sie murmelten etwas von umräumen oder ausräumen. Ich habe das nicht genau verstanden. Es war genuschelt und klang nebensächlich, quasi nicht der Rede wert. Sie vermittelten mir überzeugend das Gefühl, dass Sie im Reinen waren mit Ihrem Umräumen. Oder Ausräumen. Und diesem Zeug. Ich dachte nicht weiter darüber nach. Das tat ich erst, als ich sieben Wochen später erneut bei Ihnen klingelte und eine Teekanne bei Ihnen kaufte.

Da ich meine Nachrichten in der Kleinanzeigen App direkt lösche, konnte ich das zunächst nicht zuordnen, dass ich die Teekanne auch bei Ihnen abholen würde. Erst als ich mich Ihrer Adresse näherte und schließlich in Ihre Straße einbog, erkannte ich die Gegend wieder. Dieses Mal war es ein Donnerstagmittag, und es dauerte eine Weile bis Sie öffneten. Unser Gespräch verlief genauso unkompliziert und herzlich wie beim letzten Mal, und der wesentliche Unterschied war, dass Sie am Ende sagten: „Ach, haben Sie nicht letztens die weiße Vase gekauft?“

Ich bejahte dies, und Sie nickten, und dann war es kurz still. Sie sagten: „Ich habe mich erinnert, weil mir Ihre Kette mit der Blume aufgefallen ist. Die ist sehr hübsch.“

Ich lächelte, und Sie lachten, und ich konnte ein Unwohlsein bei Ihnen spüren. Als ich mich umdrehte, verstand ich, warum. „Ach und fallen Sie nicht“, sagten Sie und lachten wieder. „Wir renovieren immer noch.“ Ich warf Ihnen ein Lächeln über meine linke Schulter zu und stieg aufmerksam an Ihrem Zeug vorbei die Treppe herunter. Kinderoller, Rollschuhe, einzelne und gepaarte, leere, gestapelte Blumentöpfe und solche, in denen weiteres Zeug gesammelt war. Kreide, diverse Luftpumpen, Mützen, Socken. Ein zusammen gerollter Teppich, eine Regenjacke, verstreute Puzzleteile. Katzenfutter, eine Schere, ein Kindereimer aus Plastik, ein Warndreieck.

Mir war in diesem Moment klar, dass Sie nicht renovierten, um- oder ausräumten, sondern dass Ihr Flur chronisch voll von Zeug war, und dass es Ihnen unangenehm war.

Ich verließ Ihr Haus mit meiner neuen Teekanne und diesem Bild von Zeug und Ihrem Gefühl von Unwohlsein. Es begleitete mich. Als ich mir später am Tag Tee in meiner neuen Kanne kochte, schmeckte er bitter, und ich wusch die Kanne mehrmals aus und probierte es wieder, und es blieb dabei. Bitterer Tee. Ich stellte die Kanne beiseite und verzichtete in den Folgetagen auf Tee, um dieser Bitterkeit zu entkommen. Leider war sie bereits eingezogen in meinen Bauch, und ich weiß nicht, ob Sie das kennen, aber das ist ein Zustand, den ich schlecht ertrage. Wie eine leichte Staubschicht legt er sich nach und nach über alles. Über Situationen, Begegnungen, innere Bezüge. Alles schmeckt bitter. Sogar die kurzen Gespräche mit dem Obsthändler unten aus meinem Haus, mit dem ich mal was hatte. Und gerne mehr hätte.

Das konnte ich so nicht stehen lassen. Wie bereits beschrieben; das ist ein Zustand, den ich nicht aushalte über einen längeren Zeitraum. Da ist nach einer Woche dann alles an Möglichkeiten ausgereizt. Da geht dann nichts mehr bei mir. So sehr ich mich anstrenge und für Beruhigung sorge, da gibt es dann im besten Fall immer nur so Mikroberuhigungen an Miniatursynapsen im Gehirn, die – zack, im nächsten Moment schon wieder entzündet und überspannt sind. Und dann springt die Sicherung raus und Endstation.

Da mache ich lieber vorher so Sachen.

Wie bei Ihnen. Ich glaube, das ist mein Versuch, diese Synapsen zu stimulieren, damit sie sich irgendwie verknüpfen. Ich stelle sie mir vor wie orientierungslose Oktopusse mit unglaublich vielen Armen, die hilflos in der Gegend herumfuchteln und kein Gegenüber finden, keinen Sinn für diese langen Arme voller Muskeln, die koordiniert werden müssen. Wahnsinnig intelligente Oktopusse, die vor Langeweile und Desorientierung ins Straucheln geraten. Und Verbindungen brauchen. Ziele. Dafür mache ich das. Grenzen crashen. Reibung erzeugen. Irgendwie raus finden aus dieser Spirale. Für Verbindungen. Und Ziele.

Deshalb habe ich mich auf den Weg gemacht. Es war ja ganz einfach. Ihre Haustür ist die Eingangstür des Geschäfts unter Ihnen. Dann kommt dieser kurze Flurabschnitt, weiter geradeaus die Ladentür und kurz vorher links die Durchgangstür in Ihren Privatbereich. Die Tür war offen, sogar nur angelehnt. Sie waren alle außer Haus. Ich habe das abgewartet heute Morgen, dass Sie alle los gegangen sind.

Ich bin also durch die angelehnte Durchgangstür gegangen, jetzt zum dritten Mal, habe oben vor Ihrer Wohnungstür meinen Rucksack geöffnet und Erde und Samen herausgeholt. Ich habe mich für Kapkörbchen entschieden, die orange-lila Variante. Sie wirken so bunt und fröhlich.

Ich habe Recht gehabt. Ihr Zeug hat unverändert dort im Treppenhaus gelegen. In meiner Erinnerung hat sich nichts verändert seit meinem Teekannenkauf bis auf zwei blaue Kinderschuhe, die beim letzten Mal noch nicht dagewesen sind. Der rechte lag auf Stufe vier und der linke auf Stufe neun.

Ich skizziere Ihnen mein Vorgehen. Als erstes habe ich das Zeug aus den Blumentöpfen in Plastiktüten umgefüllt und diese ordentlich auf Treppenstufe zwei gelegt. Dort war noch Platz. Es sind drei Blumentöpfe zusammengekommen, und ich habe sie mit Erde und Kapkörbchensaat bestückt und anschließend oben auf die überraschend leere Fensterbank vor das obere Fenster gestellt.

Dann habe ich die Holzleisten an den Treppenstufen und oben im Bereich vor Ihrer Haustür inspiziert. Ich habe einige Stellen gefunden, an denen sich die Nägel gelöst haben über die Jahre und Ritzen zwischen Wand und Leisten entstanden sind. Auch diese habe ich mit Erde und in diesem Fall mit Kressesamen versorgt. Die brauchen nicht so viel Platz. Dennoch, ob dort etwas gedeiht, müssen wir schauen. Aber glauben Sie mir, ich habe schon erfolgreich Samen an den verrücktesten Orten gesät.

Abschließend habe ich die sechs leeren Eierkartons aus meinem Rucksack gezogen, auch diese mit Erde und abwechselnd Kresse- und Kapkörbchensamen versehen, und auf die Treppenstufen zwischen all Ihr Zeug gestellt.

Ich habe meine Flasche Wasser genommen und alles gegossen.

Als das Wasser die Erde traf, war meine Anspannung verflogen. Das Wasser auf der Erde mit den Samen und in mir das Wissen, da würde etwas wachsen. Überall würde sich inmitten Ihres Zeugs Schönheit ausbreiten.

Und nur um das nochmal zu betonen. Es geht mir nicht um Ihr Zeug. Es stört mich nicht. Es ist einfach da. Es gehört zu Ihnen. Wissen Sie, ich habe auch unglaublich viel Zeug. In mir drin. Würden Sie in mich hinein zu Besuch kommen oder über die Kleinanzeigen etwas in mir erwerben und irgendwo da innen klingeln, Sie würden eine ganze Großstadt voller Treppenhäuser mit Zeug durchqueren müssen.

Mir imponiert Ihr Zeug im Treppenhaus. Zeug im Treppenhaus bedeutet vielleicht weniger Zeug im Innern. Vielleicht ist es das, was Sie meinten mit Ihrem Umräumen oder Ausräumen oder Renovieren? Innen Platz schaffen? Und es muss ja irgendwohin, nicht wahr? Wie wunderbar, dass Sie es in Ihr Treppenhaus räumen. Da konnte ich es entdecken und spüren, wie unangenehm es Ihnen ist. Und nun wächst dort etwas. Ich finde das wunderbar. Vielleicht packen Sie Ihr Unwohlfühlen einfach noch mit dazu. Ich glaube, dass es in lila und orange glänzen und eindrucksvoll aussehen wird, sobald die Kapkörbchen wachsen und es mitreißen werden mit ihrer Farbenpracht.

Ich habe mich auf Ihre oberste Treppenstufe gesetzt und Ihnen diesen Brief geschrieben. Falsch. Ich schreibe Ihnen jetzt diesen Brief und werde ihn Ihnen gleich mit Klebeband an Ihre Wohnungstür hängen. Damit Sie Bescheid wissen.

Es wird für Sie sicher erstmal beunruhigend sein, ihn zu lesen. Ich entschuldige mich dafür.

Ich möchte Ihnen nicht schaden. Ich werde heute das erste Mal Tee aus Ihrer Teekanne trinken, und er wird nicht bitter schmecken. Und das ist sehr viel wert.

Ich würde gerne wieder kommen, um zu gießen.

Ich würde gerne sehen, wie etwas wächst.

Wenn Sie mögen, laden Sie mich auf einen Tee ein, und ich komme mit Ihrer Teekanne zu Ihnen zu Besuch.

Selbstverständlich respektiere ich, wenn Sie das nicht möchten. Dann übernehmen Sie das Gießen, ja? Das wäre wirklich wichtig.

Hochachtungsvoll, gezeichnet anonym“

„Liebe Familie im Backsteinhaus,

ich verstehe Ihr Signal. Sie haben Ihre Durchgangstür abgeschlossen. Als ich versucht habe, Ihre Durchgangstür zu öffnen, kam eine Person aus dem Laden im Erdgeschoss und hat mich sehr ernst angeschaut: „Bitte gehen Sie!“ Postwendend bin ich gegangen. Ich kann nicht gießen und ich kann nicht beobachten, wie es wächst. Ich habe verstanden. Mehr Gedanken möchte ich mir dazu nicht machen. Es ist, wie es ist.

Ich verspreche Ihnen, ich komme nicht wieder. Ich schmeiße gleich diesen Brief in Ihren Briefkasten und steige dann auf mein Rad und kaufe am anderen Ende der Stadt eine neue Teekanne für mich über die Kleinanzeigen.

Alles Gute für Sie! Gezeichnet anonym“

© Mirjam Sarrazin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.