„Man könnte das Erwachen der Natur jetzt festhalten“, denkt er, und setzt einen Fuß vor den anderen. „In einem Foto. Dann hätte man ein Foto, und doch nicht den Moment.“ Sowas denkt er oft. Man könnte… und dann aber nicht.
Er denkt in den Bildern der Leute, und dann bleibt es in ihm stecken. Er setzt das nicht um. Als fehle der Kontakt. Er hat ja auch kein Handy. Er könnte kein Foto machen. Aber er denkt: „Man könnte…“. Seine alte Spiegelreflex liegt seit Jahren in dem Karton auf dem Dachboden. Seit dem Umzug.
„Man könnte Fotograf werden.“ Auch so ein Bild, Jahre her, und so ein Denken. Alles archiviert in ihm. Und zu dem Bild gehören auch das Studio, Leuchten und weiße Schirme. Und Kakteen. Woher auch immer. „Vielleicht wären die Kakteen das gewesen, was die Leute hätten sagen können: Ist das der Laden mit den vielen Kakteen?“ Das denkt er. Und auch: „Und dann hätten die Leute noch mehr gesagt, und da wäre viel Gutes dabei gewesen.“ Wie eine lästige Fliege wedelt er das Bild weg, auch die Kakteen.
Hier am Straßenrand werden jetzt die Bäume grün. Erst die Büsche, dann die Bäume. Alles verändert sich. Sogar im Supermarkt blüht es. „Man könnte Blumen kaufen, sie in eine Vase stellen, anschauen. Dann hätte man Blumen, und doch nichts weiter.“ Auch das denkt er.
Im Supermarkt schimpft er ein bisschen vor sich hin. Das hält ihm die Leute auf Abstand. Nicht laut, bloß grummelig, zu Boden schauend. Rosinenstuten und Butter braucht er. Fürs erste. Für heute und vielleicht morgen. Damit kommt er hin. Seitdem sein Fuß gebrochen war, dauert alles dreimal so lang.
In seinem Beutel hat er nun den Stuten und die Butter, und für den Rückweg wechselt er die Straßenseite. „So wie immer,“ denkt er, und entdeckt den Stuhl auf dem kleinen Rasenstück. „Hier kann man aber auch alles finden“, denkt er. Und: „Kommt gerade recht:“ Er überprüft die Stabilität, setzt sich. Ächzt. Durchatmen, ausruhen, den schmerzenden Fuß entlasten. Gleich wird es wieder gehen. Muss ja. Die paar Meter wird er wohl schaffen bis zu seiner Wohnung.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragt da wer neben ihm. Die Person stellt sich vor ihn, geht in die Hocke. Er hört das Atmen, vergisst das eigene. „Man könnte jetzt freundlich sein“, denkt er. „Sich um ein Lächeln bemühen, sagen: Nein, danke!“ Dann würde die Person gehen. Oder weiter fragen: „Sind Sie sicher?“, und sagen: „Ich hole Ihnen gerne ein Wasser. Oder auch einen Rettungswagen. Brauchen Sie einen Rettungswagen?“ Da könnte man hochschauen, in so ein junges Gesicht, in so ein menschliches Gesicht, in diese erwartungsvollen Augen, und man könnte es sich anders überlegen: „Ja, bitte, ein Wasser wäre wohl gut. Für den Anfang. Und etwas Gesellschaft. Nur für einen Moment. Ich mache Ihnen Platz hier neben mir auf dem Stuhl.“ Und man könnte ein Stückchen zur Seite rutschen, und dann wäre man plötzlich in so einer Situation. In einem Gespräch. In so einem Bild. Und man könnte sagen: „Mal wieder Lachen. Ein Essen in Gesellschaft. Freude. Nähe. Ja, wenn ich es mir recht überlege, dann brauche ich Hilfe.“
Das denkt er. So ein Bild. Einfach sitzen bleiben auf dem Stuhl. Vielleicht könnte man dann Hoffnung haben. Wenn wer kommt, und fragt.
© Mirjam Sarrazin