Jetzt
Morgens singen jetzt Vögel, und in mir wächst die Sehnsucht.
„Wohin?“, fragt er mich, als ich den Müll durch das Treppenhaus trage und an ihm vorbei gehe.
„Runter. Zum Müll“, sage ich, und überspringe ein paar Stufen.
„Kipp ihn aus dem Fenster“, sagt er und zündet sich einen Joint an. Ich sehe es nicht, bin schon weiter unten, ahne es, und später riecht das ganze Treppenhaus.
Mit dem leeren Müllbehälter laufe ich schließlich die Treppe wieder hoch, Stufe um Stufe, und heute ist es, als bewege sie sich unter mir, als sei sie in sich nicht stabil. Da sitzt er noch vor der geschlossenen Wohnungstür auf dem Schuhbänkchen, in dem die Kinderschuhe stehen.
„Und du?“, frage ich ihn und will schon weiter gehen. Nur so ein
kleines Gespräch an diesem frühen Morgen, mit den Vögeln in den Bäumen. Da weint er. Und ich bleibe stehen.
„Ich wohne hier nicht mehr“, sagt er, und irgendwer muss in ihm diesen Hahn aufgedreht haben.
„Kannst du damit aufhören?“, frage ich.
„Womit? Mit dem Weinen? Jetzt?“, fragt er, und es läuft weiter.
„Ja“, sage ich.
Er schüttelt den Kopf, macht Platz für mich neben sich auf dem Bänkchen. Wir sitzen, er weint, ich sage entschuldigend: „Bin müde.“ Lehne mich an ihn.
„Hier drin hört man die Vögel gar nicht“, sage ich, und er sagt: „Welche Vögel?“
Kurz schließe ich die Augen, schrecke dann hoch. Es gibt jetzt einen
Sonnenaufgang draußen, und für einen Moment ziehe ich das Zusammensitzen als gäbe es kein Morgen. Dann springe ich auf, „muss los“, nuschle ich, und bin schon oben. Vielleicht sagt er „tschau.“
Hektisch schmeiße ich meine Sachen zusammen, putze mir zum zweiten Mal die Zähne und entscheide mich dann, meiner Chefin eine Nachricht zu schicken: „Hey, bin krank. Komme heute nicht. Sorry!“
Stelle mich ans offene Fenster. Es ist jetzt hell. Verrückt, wie schnell sowas geht. Denke an ihn, denke daran, dass er bald nicht mehr in diesem Treppenhaus sein wird. Ich wollte ihm doch mal was kochen, denke ich. Dann renne ich aus einem Impuls heraus ins Treppenhaus, die Stufen herunter. Er ist weg. Vor der Haustür pflücke ich
eine von den noch geschlossenen Blumen, die jetzt überall stehen, lege sie ihm auf das Schuhbänkchen.
Schließe das Fenster in meiner Wohnung, lege mich ins Bett. Gut ist jetzt.
© Mirjam Sarrazin