Habt ihr den alten Mann unten am Hafen gesehen? Sobald es warm ist, sitzt er dort. Er sitzt und schaut, und die Vögel scharen sich um ihn. Ich habe ihn noch nie sprechen gehört, noch nie mit einem anderen Menschen erlebt. Auch mit den Vögeln spricht er nicht. Ich weiß nicht einmal, ob er sie wahrnimmt. Er sitzt und schaut, und es ist, als sei er nicht da.
Ich beobachte ihn oft. Ich mag seinen Bart, mir gefallen seine wachen Augen, und ich habe gesehen, dass er stets unterschiedliche Socken trägt. Bunte Socken. Links einen blauen und rechts einen grünen. Oder links einen grünen und rechts einen rot-gelb gestreiften. Man sieht es nicht auf den ersten Blick. Die Socken schauen einen kleinen Spalt breit zwischen den teuren, braunen Schuhen und der dunklen Hose hervor, sobald der alte Mann seine Sitzposition ändert. Gut sind sie zu erkennen, ganz am Anfang, wenn er ankommt an der Bank und sich setzt. Mit einer geschickten, kleinen Geste greift er beide Hosenbeine in Oberschenkelhöhe im Pinzettengriff und zieht den Stoff hoch. Die Socken haben grelle, modische Farben und könnten in einer der großen Ladenketten gekauft sein. Sie bilden einen überraschenden Widerspruch zum sonstigen Kleidungsstil des alten Mannes.
Manchmal, wenn es warm ist und die Bank noch leer, dann sitze ich und warte und freue mich darauf, dass er bald auftauchen wird. Ich warte auf diesen Moment, in dem ich entdecken werde, welche Socken er heute trägt.
Ich sitze auf dem unscheinbaren Mäuerchen gegenüber der Bank, beobachte die kleinen Hafenschiffe, die Möwen, die Fischer, die ihre Netze aufladen, und empfinde eine tiefe Ruhe. Ich notiere die Sockenfarben in meinem Handy. Ich weiß nicht warum. Es ist zu einer Marotte geworden. Und zu einer stattlichen Liste.
Manchmal, wenn ich in einer langweiligen Vorlesung sitze oder im Supermarkt in der Schlange stehe, dann schaue ich sie mir an. „Rot – grün, rot – blau-gelb gestreift u., rot – grün, braun – blau-schwarz kariert, gelb-blau-weiß gestreift r.-braun, blau-gelb gestreift u. – rot“ ist ein kurzer Auszug, wobei das u. für unregelmäßig und das r. für regelmäßig steht und sich auf die Streifenform bezieht. Eine Struktur in der Sockenwahl anhand der Farben ist nicht zu erkennen.
Ich beobachte den alten Mann bereits den gesamten Sommer über, und ich kann mit Gewissheit sagen, dass er seitdem immer dieselben Socken in unterschiedlicher Kombination trägt. Es hat keinen Tag gegeben, an dem er keine Socken getragen hat. Auch an heißen Tagen trägt er Socken in seinen immergleichen braunen Schuhen. Lediglich sein Hemd ist dann kurzärmelig.
Dieser Sommer ist durchwachsen. Hin und wieder gibt es ein paar heiße Tage, im Großen und Ganzen ist es mit einer Durchschnittstemperatur von 20 Grad kühl, und selten ist der Himmel klar.
Ich habe viel zu tun in diesem Sommer. Ich renoviere meine frisch bezogene Wohnung, finde mich in der neuen Uni zurecht und arbeite viermal die Woche in dem kleinen Café gegenüber dem Hafen als Servicekraft. Von dort kann ich nicht bis zu der Bank schauen, auf der erstaunlicherweise nie jemand anderes sitzt als der alte Mann. Es sind eine überschaubare Kreuzung, ein Zeitungsstand und ein überdimensionaler Kübel mit einer Palme, die vor sich hin fleddert, dazwischen. Meine Momente auf dem kleinen Mäuerchen sind dementsprechend kurz.
Morgens bin ich eine halbe Stunde hier, bevor meine Schicht im Café beginnt, später für meine Mittagspause. An Unitagen schaffe ich es erst am Nachmittag zum Hafen und manchmal gar nicht. Abends telefoniere ich von dem kleinen Mäuerchen aus mit meinen besten Freundinnen aus der alten Stadt und beobachte den Sonnenuntergang. Ich liebe die salzige Luft, das Raunen des Wassers, das geschäftige Treiben der Fischer und die Touristen, die von den kleinen Gässchen, die hier am Hafen zusammenführen, ausgespuckt werden. Ich entspanne hier. Insgeheim denke ich, es ist der alte Mann, der mich hierherzieht. Es ist eine Geborgenheit, eine Ruhe, ein Zugang zu einer inneren Tiefe, die ich empfinde, während ich auf ihn warte, ihn beobachte und in Gedanken mit ihm spreche. Ich habe Fragen an ihn. Sie sind in meinem Kopf, unausgesprochen, unbeantwortet, Fragen, die einfach da sind. Ohne Antworten zu fordern. Sie bereichern mein Gehirn, animieren meine Phantasie, geben meinem Leben, meinem Alltag eine Außenperspektive. Als wäre dieser alte Mann auf dieser Bank in diesem Hafen ein Spiegel, in den ich schaue, um mich zu erkennen, zu suchen, zu finden, in Frage zu stellen, zu überdenken. Es ist gut, wie es ist.
Wenn es kalt ist, und das meint alles unter 20 Grad, dann sitzt der alte Mann nicht auf der Bank. Dann warte ich vergeblich auf ihn. Das habe ich früh begriffen in diesem Sommer.
Habt ihr mal nach oben geschaut? Hier von meinem Platz auf dem kleinen Mäuerchen aus? Den Kopf angehoben, in den Nacken gelegt? Den Blick zum bewölkten Himmel gerichtet? Es wäre einen Versuch wert. Probiert es! Es kann bereichernd und erhellend sein, die Position des Kopfes hin und wieder zu verändern. Dreidimensional. Einfach mal nach oben blicken. Und könnt ihr ihn jetzt sehen? Dort oben auf dem kleinen Giebel dieses in die Jahre gekommenen Häuschens? Da sitzt er. Seht ihr ihn? Das ist er. Der Rabe.
Er sitzt und schaut. Sobald es kalt ist. Er hat diese wachen Augen und diesen kräftigen Schnabel. Er beobachtet das Treiben auf dem kleinen Platz zwischen Hafen und Häuserfront, zu der auch mein Café gehört. Zwischendurch streckt er seine prächtigen Flügel aus. Er putzt sich das Gefieder. Dann schaut er wieder. Und sitzt. Und schaut. Bewegt den Kopf ruckartig hin und her. Er streckt sich in die Höhe, hüpft ein paar Millimeter zur Seite. Schaut. Sitzt. Putzt sich. Er ist gut zu erkennen hier von meinem Mäuerchen aus. Ich muss nur den Kopf in den Nacken legen.
Ich habe ihn durch Zufall entdeckt. Noch bevor ich den alten Mann das erste Mal sah. Das Meer war stürmisch und das Wetter ungemütlich. Ich war unruhig, als ich in dieser Stadt ankam, fühlte mich verkatert, übermüdet, irgendwie gestrandet und hatte Sorge, nicht Fuß fassen zu können. Der Aufbau der Stadt war mir fremd. Meine frühere Uni hatte direkt am Meer gelegen, an einer stark befahrenen Straße, die lediglich überquert werden musste, um zum Strand und zu zahlreichen Cafés zu gelangen. Mein Leben spielte sich an der Uni ab. Ich hatte einen kleinen Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin und verbrachte sowohl meine Studien- und Arbeitszeiten als auch meine gesamte Freizeit in unmittelbarer Nähe zu Uni und Strand. Ich war nie alleine, irgendwen traf ich immer, und zum Schlafen fuhr ich mit dem Rad sieben Minuten stadteinwärts zu dem kleinen Zimmer, das ich bei einer älteren Dame mit einem Hof voll von griechischen Heldinnenfiguren aus Stein gemietet hatte.
In dieser Stadt aber lag die Uni landeinwärts und eine Viertelstunde von Innenstadt und Hafen entfernt. Meine Wohnung befand sich in einem Vorort in Küstennähe, und meine Kommiliton*innen waren über das gesamte Stadtgebiet verstreut. Es brauchte gezielte Verabredungen, um in Gesellschaft zu kommen, und ich verbrachte viel Zeit mit Fahrradfahren.
Ich hielt mich am Meer fest. Am Hafen. Am Salz in der Luft und an den Möwen auf den Masten. Zunächst ließ ich mich in Hafennähe durch den Tag treiben, um in dieser neuen Stadt anzukommen. Erst später, als ich den Job in dem kleinen Café annahm, kristallisierten sich feste Routinen im Tagesablauf heraus.
Dem Kind flog sein Ballon davon. Ich beobachtete die Szene, blieb entgegen meines Impulses, loszulaufen und einen Rettungsversuch zu starten, aber stehen und beobachtete den Ballon beim Steigen in die Lüfte. Er tanzte im kalten Wind. Da sah ich den Raben zum ersten Mal. Er saß auf seinem Giebel und schaute. Mein Blick blieb an ihm hängen, weil er für einen kurzen Moment den roten Ballon zu beobachten schien, genau wie ich. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, wir dachten in eine ähnliche Richtung und waren eins. Dann putzte er sich. Und streckte seine Flügel. Der Ballon flog weiter. Der Rabe blieb. Seitdem beobachte ich ihn.
In diesem durchwachsenen Sommer ist er immer da, sobald es kälter ist als 20 Grad.
Der alte Mann war als Kind ein Vogelexperte gewesen. Er hatte schon als ganz Kleiner die Tauben beobachten wollen, hatte die Krähen nachgeahmt und mit der Mutter im Park die Enten gefüttert und dabei geschnattert wie sie, noch bevor er „Mama“ hatte sagen können.
Besonders angetan aber hatte es ihm der Rabe, den er im Garten des Elternhauses entdeckte. An langen Wintermorgen saß der Junge gut geschützt vor der Kälte auf der Fensterbank und beobachtete, wie dieser alte, struppige Rabe hoch oben im Kastanienbaum saß und geduldig wartete, bis die Mutter das Futterhäuschen für die Meisen befüllte. Sobald die Mutter den Garten verlassen hatte, ließ er sich herunter auf einen nahen Ast neben dem Häuschen und stupste es mit seinem starken Schnabel an, so dass einige der Körner auf den Boden fielen. Entspannt konnte er nun die Körner vom Boden aufpicken und musste sich nicht den Kopf in dem schmalen Futterhäuschen verrenken. Dem Jungen hat es eine tiefe Zufriedenheit vermittelt zu sehen, wie der Rabe sich mit Geduld und List sein Futter erarbeitete.
Dann kamen der Krieg und der Hass. Die Häuser und Straßen, der Garten, seine Familie und sein Fühlen wurden zerstört. Die Kastanie blieb stehen, der Rabe verschwand.
In seinem Inneren aber trug der Junge ihn stets bei sich. Und als es noch schlimmer wurde, das Grauen und der Schrecken, und diesem Jungen nicht mehr viel blieb, und es ihn zwang, sich innerlich zu zerreißen, kurz vorher, in diesem Moment der Entscheidung, da war plötzlich der Rabe da, zerzaust, kräftig, zugeneigt und begann Flugübungen mit ihm zu machen. Er bereitete seine struppigen, alten Flügel aus, stellte sich auf, streckte den Kopf und begann, sich geschmeidig zu bewegen.
Der Junge machte es ihm nach. Er war eifrig und ehrgeizig. Er hatte diese Gewissheit, dass es nur diesen Weg gab für ihn. Er musste das schaffen. Er übte. Ihm fehlte Nahrung, ihm fehlte Kraft. Um ihn das Unaussprechliche. Die eisige Kälte, das Zittern des Körpers, den er nicht mehr spürte. Der Rabe trieb ihn an. Unermüdlich flatterte der Junge. Kopierte den Raben. Und ganz allmählich schwappten die Bewegungen des Raben auf ihn über. Sein Gehirn speicherte jede noch so kleine Bewegung, sein Körper merkte sich die Muskelreize, die ihn seinem Ziel näherbrachten, und vergaß die, die ins Leere führten. Die Abläufe automatisierten sich. Bald schon musste der Junge nicht mehr nachdenken, der Körper bewegte sich wie von selbst. Hervorragend, mächtig und anmutig. Selbst das leichte Hinken des Flügels des alten Raben übernahm der Körper des Jungen wie von selbst. Mit viel Kraft und Lebenswille.
Und eines Tages, als sie seine Familie lange schon getötet hatten, und er nur lebte, weil fremde Menschen ihn mit Zügen und Transportern weggebracht hatten aus seiner Heimat, deren Klänge ihm nur noch in seinen Träumen begegneten, und als er immerzu fror, auch wenn die Sonne schien und die anderen kurze Hosen trugen, da konnte er es plötzlich. Er flog. Es waren ein paar Meter. Es war ein Anfang. Ein hoffnungsvoller. Er hatte es gelernt. Er konnte es jetzt. Der Rabe war immer bei ihm geblieben. Er war verlässlich, und er kam, wenn es nicht mehr ging.
Geht ruhig runter zum Hafen. Durch eine der kleinen Gassen könnt ihr ihn nicht verfehlen. Heute ist es warm. Da sitzt er auf seiner Bank, der alte Mann. Ganz bestimmt. Ihr dürft auf meinem Mäuerchen verweilen. Ihr erkennt es an der leeren Colaflasche, die ich dort gestern habe stehen lassen. Ich habe sie vergessen, und vorhin stand sie noch dort. Probiert es aus! Es wird euch gut tun. Und wenn ihr mögt, dann achtet doch auf seine Füße. Ob er Socken trägt. Gestern plötzlich hatte er keine an in seinen braunen Schuhen. Und heute war er noch nicht da, als ich los musste zu meiner Schicht. Ich habe darüber nachgedacht, meine Chefin anzurufen und Bescheid zu sagen, dass ich später komme, aber ich bin nicht gerne unzuverlässig. Tut ihr mir den Gefallen? Werft ihr einen Blick auf seine Socken? Ach, und noch etwas. Da war gestern noch etwas anders an ihm. Aus seiner Tasche am Hemd ragte diese schwarze Feder. Ich möchte so gerne wissen, ob er sie heute wieder bei sich hat. Und dann kommt ihr hier im Café vorbei und erzählt es mir? Ich gebe euch einen Espresso aus. Draußen auf der Terrasse in der Sonne. Es ist herrlich dort. Jetzt in dieser Wärme.
© Mirjam Sarrazin