Der Elefant

Mein Sohn sitzt als Beifahrer neben mir in seinem Kindersitz, und während ich das Auto von unserem Hof auf die Straße manövriere und mich auf verbliebene Schneereste, Fahrräder ohne Licht und den Berufsverkehr konzentriere, ruft er plötzlich: „Der Elefant rutscht runter.“

Fast wäre ich auf die Bremse getreten, als hätte er „halt!“ oder „rot!“ oder besser noch „Feuer!“ geschrien, weil er erschrocken und nach Dringlichkeit klingt. Ich bremse nicht, nehme aber den Fuß reflexartig vom Gas. „Was?“, frage ich ihn aufgebracht und werfe einen flüchtigen Blick zu ihm.

Gebannt starrt er auf die Windschutzscheibe. „Da!“ Sein Finger zeigt auf eine Ansammlung von schmelzenden Eisresten, die in Zeitlupe das Glas herunterrutschen. „Der Elefant fällt jetzt“, erklärt er mir, und seine Stimme hat sich wieder gefangen. Er beobachtet, ich gebe leicht Gas und schaue auf den Bus vor uns.

„Der Elefant geht jetzt zu seiner Herde. Da unten ist sie. Sie suchen Wasser.“ Mein Sohn erzählt. Draußen wird es hell und später am Tag stehe ich vor dieser Arztpraxis und habe wacklige Beine und den dringenden Wunsch, zu Hause auf meinem Sessel zu sitzen und Tee zu trinken. Ich kann ihn schmecken, den Tee. Zitronig, würzig, gemütlich. Ich habe Durst. Ich hole meine Flasche aus der Tasche und trinke Wasser. Plötzlich läuft ein Elefant durch meine Gedanken. Er sucht seine Herde. Sie stehen am Wasserloch. Lebendig, stattlich, gesellig. Großartig. Schutz. Kraft. So viel Kraft. Ich stelle mir vor, wie sie hier stehen, mitten in dieser kleinen Straße, umgeben von Hochhäusern. Ich höre sie trompeten. Sie ärgern sich über die Autos, die keine Rücksicht nehmen. Und sie ärgern sich über mich, dass ich hier stehe. Und Wasser trinke. Mit wackligen Beinen. Und nicht endlich losgehe und es hinter mich bringe. Sie starren mich an. Bis auf die Kleinen. Die scharren im Asphalt und suchen nach versteckten Graswurzeln. „Wir kommen alle mit“, sagen sie mir und plötzlich empfinde ich so ein verrücktes Gefühl von Übermut. Ich gehe also mit einer Herde Elefanten zu diesem Arztgespräch. Elefanten aus der Phantasie meines Sohnes, die ihren Weg irgendwie von unserer Windschutzscheibe bis hierher in diese Straße geschafft haben.

Das muss klappen, denke ich. Bei so viel Herrlichkeit in meinem Sohn und so viel Kraft und Schutz und so vielen Elefanten um mich herum.

© Mirjam Sarrazin

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