Habt ihr schon einmal einen Buchstaben in Worten ausgetauscht? Ist euch aufgefallen, wie klein und unscheinbar diese Veränderung auf den ersten Blick ist und wie groß die Wirkung auf den Zweiten?
Ich habe letztes Jahr im Sommer damit angefangen. Es war ein heißer Sommer, und ich verbrachte zwei Wochen in einer kleinen Ferienwohnung am Strand. Allein. Ich gönnte mir diese Auszeit von dem Trubel zu Hause, und ich hatte mir vorgenommen, meditieren zu lernen. Viele Stunden am Tag saß ich auf dem kleinen Balkon meiner Unterkunft und schaute auf den weiten Strand und das meist unruhige Meer. Ich beobachtete die Kinder, die Räder schlugen, Hunde, die den Schaumkronen hinterherjagten, und Joggende, die vor Energie strotzten. Möwen lachten und stritten um die Essensreste der Touris. Ich habe in den zwei Wochen nicht herausfinden können, wo die Möwen herkamen. Sobald der Strand sich leerte und die Sonne sank, tauchten sie wie aus dem Nichts auf. Ich genoss dieses Schauspiel. Wie sie kamen, alles einnahmen, laut und unübersehbar waren. Wie sie so schwerelos am Himmel kreisten, dem Toben des Wassers widerstanden und sich treiben ließen auf den Wellen. Ich fühlte mich leicht in diesen Momenten. Unbeschwert. Vielleicht hatten sie dieses Gefühl von Selbstwirksamkeit, das mir fehlte im Alltag. Sie hatten die Selbstsicherheit, die ich mir wünschte zu Hause, um auf den Tisch hauen und meine Meinung sagen zu können. Um Entscheidungen zu treffen. Um mir etwas zuzutrauen. Wie diesen Urlaub. Diese zwei Wochen. Von denen ich seit Jahren träumte. Und immer war etwas wichtiger gewesen. Meinem Mann war immer etwas wichtiger gewesen. Und mir war immer wichtiger gewesen, was ihm wichtiger gewesen war. Um dieses Herzrasen zu vermeiden. Diese Anspannung im Bauch.
Diese Löwen waren einfach da. Und ihnen beim Fliegen und Einnehmen zuzusehen, verlieh mir eine tiefe, innere Ruhe. Als teilten sie ihre Kraft mit mir.
Ich weiß nicht, ob ich meditieren gelernt habe in diesen zwei Wochen. Ich hatte viel über Achtsamkeit gelesen und mit Bekannten über Meditation gesprochen. Diese Vorbereitungen waren wichtig für mich gewesen. Sie hatten mir Mut gemacht. Ich fuhr in den Urlaub, um meditieren zu lernen. Das war ein konkreter Plan, an dem ich mich festhalten konnte.
Ich hatte mir so ein kleines, rundes Kissen gekauft und war damit am ersten und am zweiten Urlaubstag durch meine Ferienwohnung getapst, um einen passenden Ort für mich zu finden. Mehrmals. Jeder Versuch endete auf dem Balkon. Dort fühlte ich mich wohl, und es war zu eng für das Kissen. Mir hatte das gefallen, als ich noch zu Hause gelesen hatte, dass Meditation nicht zwangsläufig einen festen Ort braucht. Nur Ruhe. Und diese Achtsamkeit mit sich. Dass es schon ein erster Schritt wäre, eine Tasse Tee bewusst und in Ruhe zu trinken und eine dieser kleinen Atemübungen zu machen. Ich trank also meine Tasse Tee in Ruhe auf dem Stuhl auf dem Balkon, schaute den abendlichen Löwen zu und atmete und zählte und kam durcheinander. Ich fing nicht von vorne an. Ich versuchte es am nächsten Tag wieder. Mit der Zeit entwickelte sich in mir ein Zusammenspiel der Löwen, meinem Tee und dem Atmen. Am Ende der ersten Urlaubswoche gehörten diese drei Wahrnehmungsmomente für mich zusammen. Es wurde ein Ritual. Verlässlich. Es entspannte mich. Ich dachte jetzt weniger an die Kinder, die parallel Urlaub bei meiner Schwester machten, weniger an meinen Mann. Und weniger an die Wut, die zu Hause mit uns wohnte. Und keinen Platz fand. Immer überall und doch vollkommen haltlos. Ständig wegorganisierte wurde, durchstrukturiert. In Terminplanern, Apps und Meetings. Zwischen Hausaufgaben und Einkaufslisten. In die Nische zwischen Waschmaschine und Trockner gestopft. Ins Geschäftsauto meines Mannes, auf diesen Reisen, die er machte. Ich dachte nicht mehr daran, wie er die Wut zunächst nicht wieder mitbrachte. Zunächst alleine zurück kam. Zufriedener, ausgeglichener, wie ausgeleert. Und ich die Anspannung in meinem Bauch ignorierte. Weil ich meinen Mann wieder hatte. Kurz. Und wie sie uns jedes Mal wieder fand. Bis es knallte. Und da die Gewalt war. Seine. Und meine Scham. Am Ende.
Die Löwen flogen und lachten, und immer wieder beobachtete ich Spaziergänger*innen, die den Strand eilig verließen, weil ihnen die Tiere unheimlich, zu ungestüm, zu viele wurden. Versank die Sonne endgültig, verschwanden die Löwen genauso schnell, wie sie gekommen waren. Und hinterließen diesen Zauber in mir.
Der Strand wirkte ausgestorben. Es wurde kühler. Ich stand auf, seufzte tief, warf einen Blick in den dunklen Himmel und stellte meine Tasse mit dem letzten Schluck See in der kleinen Kochnische ab.
Ich machte einmal am Tag einen mehrstündigen Spaziergang. Ich fuhr dreimal einkaufen in den zwei Wochen und das dritte Mal nur, weil ich nicht daran gedacht hatte, neuen See zu kaufen. Ansonsten saß ich auf dem Balkon. Schaute. Las hin und wieder in dem Roman, den ich mitgenommen hatte, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich wartete auf die Löwen. Auf meinen See und auf das Atmen am Abend.
Das neu gekaufte, runde Kissen hatte ich liebevoll auf den Küchentisch gelegt, den ich keinmal benutzte während meines Aufenthalts, da ich auf dem Balkon aß. Ich hatte das Kissen mit Muscheln verziert, die ich von einem meiner Spaziergänge mitgenommen hatte. Mir gefiel dieses Stillleben. Jetzt, nachdem ich mir den Balkon für mich als Meditationsort ausgesucht hatte, verstand ich es als Symbol für meine Vorstellung von Meditation und Achtsamkeit, so wie sie gewesen war, bevor ich in diesen Urlaub aufgebrochen war. Für meinen Mut, aufzubrechen.
Ich saß auf meinem Balkon, atmete und warf zwischendurch einen Blick zum Tisch mit dem Kissen darauf und spürte, dass das Aufbrechen, das alleine Losfahren etwas in Gang gesetzt hatten in mir. Auch dass ich mir diesen Balkon und diese Momente am Abend angeeignet hatte. Für mich. Als meine eigenen. Es war wie ein leichtes Kitzeln im Inneren, eine winzige Bewegung, die sich für einen Moment ausdehnte, sobald ich mein abendliches Ritual begann. Wie eine gemächliche Welle überschwemmte das Gefühl lebendiger Wärme meinen Körper und zog sich so wie die Löwen nach Sonnenuntergang wieder zurück. Die Erinnerung daran aber blieb und verstärkte sich mit jedem Urlaubsabend.
Am Ende der zwei Wochen spielte es keine Rolle mehr, welche Sorte See ich trank und dass sie meinen Lieblingssee in dem kleinen Dorfladen nicht gehabt hatten. Es war dieses wohlige Fließen durch den Körper. Es war das tiefe Ausatmen nach dem ersten Schluck. Es war so eine Ahnung von Weite, von Hoffnung, von Möglichkeiten, von Tiefe, die ich schmeckte und die sich in mir festsetzten.
Als ich Abschied nahm und packte, entschied ich, mein Wissen in der Ferienwohnung liegen zu lassen. Genauso, wie es all die Tage dort gelegen hatte. Auf dem Tisch, bedeckt von Muscheln.
Ich brauchte dieses Wissen nicht mehr. Ich hatte etwas Eigenes entwickelt, einen Zauber zwischen Löwen, See und Atmen. Und einen Anker geworfen in mir.
Auf der Rückfahrt traf ich eine Entscheidung. Ich dachte an die Löwen, die jetzt bald den Strand einnehmen würden, ohne dass ich dabei sein würde. Und an die noch fast volle Packung See, die in meiner Tasche steckte.
Ob schon jemand Neues in die Ferienwohnung gezogen war? Wer wohl mein Wissen gefunden hatte? Und ob es nützlich sein könnte für diese Person? Vielleicht würde es auch bei ihr eine kleine Bewegung in Gang setzen, dachte ich und machte ein paar bewusste Atemzüge, bevor ich die Ausfahrt nahm und in die Straße meiner Schwester einbog.
© Mirjam Sarrazin