Die Geschichte der Teller

Laufender Wasserhahn vor blauen Kacheln

Als ich an dich denke, wird mir erst warm und dann kalt. Ich ziehe mir das leichte Baumwolljäckchen über, das achtlos im Flur über dem Haken hängt, und stehe kurz auf der Terrasse. Beiläufig grüßt der Nachbar aus dem Garten. Ich nicke ihm ohne Lächeln zu, und sein Kind springt ins Planschbecken. Es ist 21 Uhr, und das Nachbarskind badet im Planschbecken, und mir ist kalt. Ich ziehe das Baumwolljäckchen enger um mich, gehe ins Haus, schließe erst die Terrassentür und dann den blauen Vorhang.

Ich verschließe die Haustür und in der Küche das Fenster.

Auf dem Sofa wickele ich mich in die Wolldecke, finde keine Ruhe und wickele mich aus. Ich ziehe Wollsocken über und den dicken Pullover mit der Kapuze, den du über den Stuhl gelegt hast, als du gestern Abend von der Arbeit nach Hause gekommen bist.

Dieses Haus hat sich zu einem Nichts verwandelt.

Ich kann nichts spüren, nichts mit mir anfangen, und nichts wärmt. Oder kühlt. Je nach Ausgangslage. Wahllos stromere ich durch die Räume.

Ich öffne den Karton mit den Tellern, der im Wohnzimmer in der Ecke steht, weil wir uns die Teller anschauen wollten. Nichts interessiert mich jetzt an den Tellern. Ich nehme sie, weil sie dort stehen, und weil sie ein kleines bisschen etwas zu tun sind, und ein kleines bisschen Etwas ist besser als dieses große Nichts.

Nach und nach verteile ich die Teller im Haus. Verkehrt herum. Sie liegen auf dem Tisch, auf dem Sofa, auf dem Bett, auf dem Klodeckel, auf deinem Plattenspieler, auf meinem Lieblingshocker, im Spülbecken, irgendwann überall. Auf ihren Rücken stehen Worte in unterschiedlichen Handschriften.

Dort steht „Liebe, Liebe und Liebe“ und „Ein Leben voller Wunder“ oder „Auf dass ihr den gemeinsamen Weg nicht verlassen möget“.

Dort steht auch „Es ist, wie es ist“ und „Gemeinsam Muscheln pflücken am Strand“.

Ich lese „Alles Glück für das Leben zu zweit“.

Es gibt längere Texte, in denen Morgenroth oder Gibran zitiert werden, und Sätze, die ich aus Poesiealben kenne.

Manches reimt sich.

Manchmal gibt es einzelne Worte. „Zufriedenheit“ oder „Familie“.

Und auf dem Klodeckel liegt „Geborgenheit“.

Einmal taucht auch Gott auf und ein Segen mit Gott. Ein Teller hat keine Worte, sondern eine gemalte Sonne. Ein anderer zeigt eine Kinderzeichnung.

Während ich durch die Wohnung gehe und die Teller betrachte, werden die Bilder unseres Abends vor vielen Jahren wach. Es war warm. Es war Sommer, und wir hatten im Biergarten zu viel getrunken. Du Wein, ich Bier. Die Welt gehörte uns, und wir unterhielten uns auf dem Nachhauseweg darüber, dass wir nicht verstehen konnten, dass die Menschen nicht öfter sangen. Du machtest eine wissenschaftliche Abhandlung daraus, und wenn du einen Satz beendet hattest, sang ich ein paar Takte.

Den Karton fanden wir vor dem Haus, in dem auch der kleine Bioladen untergebracht war, in den wir nicht gingen, weil wir die Verkäufer*innen nicht mochten. Sie hatten einiges für den Sperrmüll zusammengestellt. Wir stöberten und sangen, und du sagtest, dass die Menschen nicht sangen, weil sie dann enthemmt seien, und das die Welt ins Wanken brächte. Du brachtest Quellenangaben, und ich öffnete den Karton, und der Ton, den ich sang, rutschte eine Oktave höher im Abgang. „Hui“, sagte ich. „Holla“, erwidertest du.

Wir waren beide erst vor kurzem aus dem Elternhaus aus- und in unsere gemeinsame Wohnung eingezogen, und es fehlte noch vieles. Vor allem Teller. Und hier waren sie, in Massen!

Wir trugen den Karton bis nach Hause. Fast zwei Kilometer weit durch die Straßen. An diesem warmen Sommerabend mit viel Alkohol im Blut, und nun warst du es, der sang, und ich erzählte dir von den zukünftigen Speisen auf den Tellern, und es ging kein einziger Teller zu Bruch.

Am nächsten Tag entdeckten wir die Worte auf den Tellerrücken. Wir lasen sie uns vor und freuten uns. Wir beschlossen, diese Teller für das Festmahl aufzubewahren, sollten wir einmal heiraten. Zum täglichen Gebrauch kauften wir uns zwei braune Ikea Sets. Das kam uns alltagstauglicher vor.

Seitdem war der Karton verschlossen geblieben, bis ich ihn nun ausgepackt hatte. „Alles Liebe zur Hochzeit“, lese ich auf dem Teller, der mit dem Bauch nach unten auf dem Küchenregal liegt, und dann merke ich, dass ich lächele.

Und feuchte Augen bekomme.

Wegen dir.

Jetzt bist du weg. Für immer. Und wir haben die Teller nie benutzt.

Sie haben achtlos im Karton gelegen und darauf gewartet, dass wir heiraten. Und sie glänzen würden. Wir haben nicht geheiratet. Wir haben niemanden eingeladen, der von diesen Tellern essen würde, keinen Raum gemietet, in dem sie liegen würden, kein Buffett bestellt, um sie zu füllen. Du hast nicht einmal eine Rede vorbereitet, obwohl du das zu jeder Gelegenheit getan hast. Wir haben keine Hochzeitsreise gemacht, nicht darüber geseufzt, wo wir mit all den Geschenken hinsollen. Wir haben uns nicht im Familienstammbaum deiner Familie eintragen lassen. Wir haben keine Kinder bekommen, nicht einmal welche geplant, und diese Einsicht überkommt mich jetzt in diesem Moment wie eine tiefe Verzweiflung.

Ich irre durch das Haus. Durch unser Haus, das wir nicht gekauft haben und dessen Miete ich jetzt alleine zahlen muss. Oder eben ausziehen. So hast du das heute Nacht zu mir gesagt, nachdem du mir das Schreckliche eröffnet hast, das, was ich nicht denken möchte, und das zu diesem zersplitternden Schweigen bei mir führte, dieser Sprachlosigkeit zum Zerplatzen. Bevor ich dann wahllos Sätze gesagt habe, die mir seit gestern Nacht und diesen unendlich zähen Tag lang heute wie groteske Fratzen durch den Kopf spuken. „Wie soll das denn mit dem Spieleabend morgen bei Henrike laufen? Und wer füttert denn dann morgens die Katze? Und wenn du mich jetzt hier alleine lässt, was soll ich denn dann machen? Was denken denn die Nachbarn? Du wolltest doch die Fenster putzen. Wann machst du das denn dann? Und was ist denn, wenn ich die Miete gar nicht alleine zahlen kann? Da muss ich ja mehr Stunden machen.“

„Oder eben ausziehen“, hast du zu mir gesagt. Einfach so.

Aus diesem Haus, in das wir vor zwei Monaten gezogen sind, in dessen Abstellraum wir diesen Karton mit den Tellern geschleppt haben. Für die Hochzeit, die wir in Ruhe angehen lassen wollten. Erstmal das Haus. Und Urlaub. Dann mal schauen.

Ich konzentriere mich auf die Teller. Ich gehe durchs Haus und fasse sie alle an, fahre ihnen um die Ränder, rieche an ihnen. Was wohl von ihnen gegessen wurde? Wer sie in den Karton gepackt hat? Während ich durch das Haus laufe und die Teller betaste, öffne ich alle Wasserhähne. Das Rauschen des Wassers beruhigt mich. Es wirkt lebendig. Du bist weg. Ich bin hier alleine mit diesen Tellern. Und dem fließenden Wasser. Ich werde es laufen lassen bis ich eine Lösung für mich gefunden habe. Irgendeine Beruhigung. Oder du wieder kommst. Was du nicht tun wirst. Seit sechs Monaten gehe das schon, hast du in dich hinein genuschelt gestern Nacht. Da kommt man nicht wieder. Ich schüttele den Kopf und rede mit dem Teller, auf dessen Unterseite die Sonne gemalt wurde. „Da kommt keiner wieder.“ Sechs Monate fremdgehen und in diesen Monaten gemeinsam umziehen in ein Haus. Nur zur Miete. Jetzt verstehe ich, warum du nicht kaufen wolltest, nachdem wir aus unserer Wohnung raus mussten wegen Eigenbedarfs.

Ich heule. Ich lasse mich auf das Sofa fallen, wickele mich erneut in die Wolldecke, die deine Mutter für uns gestrickt hat. Es ist jetzt wieder mein Sofa. Weil es vorher meines war. Damals. Vor dir. Vor so unglaublich vielen Jahren. Ich heule laut. Den Teller mit der Sonne halte ich auf meinem Schoß.

Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn du jetzt klingeln würdest. Du würdest klingeln, obwohl du doch den Schlüssel hast. Hast du doch, oder? Hast du unseren Schlüssel noch? Du würdest klingeln, und ich würde den Teller mit der Sonne aufs Sofa legen und die Tür öffnen, und du würdest einen blöden Witz machen. So wie immer, wenn du verunsichert bist. Und es würde mich nicht ärgern, obwohl es mich meistens ärgert, weil es jetzt anders wäre. Weil du geklingelt hättest und jetzt dort stehen würdest. Und dann würdest du dieses schiefe Lächeln machen, und ich würde weinen. Und du dann auch. Und dann würdest du sagen, dass es doch alles gar nicht so sei, wie es ist. Dass wir reden müssten. Und dann würden wir reden. Auf unserem Sofa. Und du würdest dich über die Teller wundern, die alle auf dem Bauch liegen. Und über die aufgedrehten Wasserhähne. Da wärst du dann derjenige, der nicht sauer werden würde, obwohl du bei sowas sonst immer sauer wirst. Du würdest gedankenverloren den Teller mit der Sonne nehmen und auf dem Schoss halten. Und irgendwann wären wir beide so durchgeredet, dass einer von uns sagen würde: „Ich brauche jetzt Alkohol.“ Und du würdest wieder einen blöden Witz machen. Und dann würden wir Alkohol trinken. Du Wein und ich Bier und nochmal weinen. Und am Ende wäre es alles gut. Es wäre alles wieder gut. Versprochen. Wenn du jetzt klingeln würdest.

Und dann klingelt es. Mein Herz stolpert, fällt beinahe über seine eigenen Füße und kann sich dann abfangen. Ich stehe auf, lege den Teller mit der Sonne auf das Sofa und gehe zur Tür. Mir ist schummrig. Ich bin verheult. Ich halte einen Moment inne, dann öffne ich. Und trete einen Schritt zurück.

Vor der Tür stehen Menschen. Auf den ersten Blick sind es mehr als 30 und sie sind alle gestylt und halten Blumen in ihren Händen. Eine Vielzahl Augenpaare ruht erwartungsvoll auf mir. Mir direkt gegenüber steht eine Person in einem langen, braunen Mantel und einem Hut, wie er einmal Mode war. Sie öffnet den Mund, setzt zum Sprechen an. Da drängelt sich ein hagerer, großer Herr in rotem Cordanzug und Fliege an ihr vorbei, den Blick hinter mich, in mein Haus geworfen. „Da sind sie ja“, ruft er, und schon ist er an mir vorbei in meinen Flur geschlüpft. Ich will mich umdrehen, ihn zurückhalten, Fragen stellen, werde jedoch im gleichen Moment von der Menschenmenge überrannt. Sie drängen an mir vorbei ins Haus, reden und lachen, aufgeregt und erfreut. Ich stehe noch an der geöffneten Tür. Ich wische mir verstohlen mit dem rechten Ärmel Tränen und Rotz aus dem Gesicht und ziehe in Erwägung, nach oben ins Badezimmer zu schleichen, die Tür abzuschließen und mich zu waschen. Und nachzudenken. Im gleichen Moment höre ich eine tiefe Stimme aus dem ersten Stock: „Hier. Ich habe ihn gefunden. Er liegt auf dem Klodeckel.“ Und die Stimme klingt heiter und fröhlich, und es scheint um „Geborgenheit“ zu gehen.

Mir schwirrt der Kopf. Ich stehe neben der geöffneten Haustür, vor der es dunkel wird und weiß nicht, wie weiter. Um mich herum bewegen sich mir unbekannte Menschen freudig durch unser Haus. Mein Haus. Sie rufen, sie schreien, sie fallen sich in die Arme. Sie tragen die Teller durch die Räume, zeigen sie einander. Eine Person im langen, roten Abendkleid rauscht an mir vorbei aus der Tür und ruft über die Schulter zurück ins Haus: „Nun kommt schon. Alleine schaffe ich das nicht.“ Schon lösen sich weitere Personen in auffälligen Abendkleidern aus einer Traube von Leuten im Flur und folgen ihr. Schweben hinter ihr her. Lachen dabei. Es geht alles wahnsinnig schnell, so dass mir der Atem stockt. Bewusst hole ich Luft. Dann trete ich auf eine ältere Person zu, die sich auf dem 60er Jahre Sessel im Flur niedergelassen hat und ihre Waden massiert. „Entschuldigen Sie“, versuche ich es zaghaft und bin fast erschrocken, meine Stimme zu hören. „Was genau…“ Ich unterbreche mich. Mir fällt auf, dass ich gar nicht weiß, was ich fragen will. Ich fühle mich überrannt, meine Gedanken niedergetrampelt. Die Situation erscheint mir so grotesk, dass die Worte in meinem Kopf sie nicht beschreiben können. Die Person blickt mich erwartungsvoll an. Und freundlich. Offen. Das macht mir Mut. „Ich wollte eigentlich nur wissen, was Sie hier alle machen.“ Jetzt lese ich Irritation auf dem Gesicht. Sie scheint meine Frage nicht zu verstehen. Ich räuspere mich. „Ähm, ich würde gerne wissen, was Sie in meinem Haus machen?“ Ein bisschen ärgerlich werde ich jetzt schon. Was passiert hier eigentlich?

„Es ist Ihr Haus?“, fragt die Person und schaut mich wieder mit dieser hoffnungsvollen Offenheit an.

„Ja“, nicke ich.

„Wie wunderbar, Liebes.“ Nun steht sie auf, und während die Irritation sich in ihrem Gesicht zu einem glücklichen Grinsen wandelt, kommt sie nah an mich heran. Sie nimmt meine Hand. „Wir danken Dir, Liebes. Es ist uns eine Ehre, es ist eine große Freude, so eine wunderbare Gelegenheit.“ Sie drückt meine Hand überraschend fest, und dann ruft sie laut in die Menge: „Das hier, das ist die Gastgeberin. Ein Prost auf unsere Gastgeberin!“

Im nächsten Moment schauen alle zu mir, kommen Menschen aus den angrenzenden Zimmern, um einen Blick auf mich zu werfen. Einige haben bereits Gläser in den Händen. Unsere Gläser. Meine Gläser. Sie halten sie hoch. Sie rufen „Prost“ und „Auf Sie“.

Und während ich noch versuche mich zu sammeln, wieder einmal zu sammeln, rauscht die Person im roten Abendkleid an mir vorbei, dieses Mal von außen nach innen, und sie trägt eine gigantische Platte voller duftender Speisen. Ihr folgen die anderen. Mit weiteren Platten. Sie bahnen sich den Weg ins Wohnzimmer, und dort scheint bereits jemand Tische zusammen gestellt zu haben, so dass ein Buffett angerichtet wird. Während zeitgleich auf der Terrasse eine Band ihren Soundcheck beginnt.

Nach wie vor ist die Haustür geöffnet, und ich stehe erstarrt an dieser Stelle. Ich könnte gehen, der Gedanke kommt mir plötzlich. Aber auch jetzt reicht die Zeit nicht, um den Gedanken zu Ende zu denken. Der hagere, große Herr mit der Fliege taucht vor mir auf und reicht mir ein Glas mit Sekt. Mein Glas mit Sekt. Ich überlege, ob es auch mein Sekt ist oder ob er mitgebracht wurde, da hebt der Herr bereits sein Glas zum Toast, und ich spüre, wie in mir etwas runtersackt. Es ist so ein Fallenlassen. Irgendetwas plumpst. Ich verstehe nichts. Ich muss es nicht verstehen. Das wird mir klar. Und dann rückt alles um mich herum wie in weite Ferne, es wird irrelevant. Hier ist der Sekt. Hier ist der Herr, der mich anlächelt und auf Erwiderung wartet. Ich hebe das Glas, proste ihm zu und stürze den Sekt in mich hinein. Es ist nicht meiner, das weiß ich jetzt. Dieser hier ist teuer und lecker.

„Gibt es mehr?“, frage ich den Mann, und all meine Erstarrung ist verflogen. Mit einem Ruck schlage ich die Haustür zu und bahne mir den Weg zum Buffett. „Wo gibt es denn hier diesen köstlichen Sekt?“, frage ich die Herumstehenden. Eine Person mit langen Locken zeigt auf die Küche. „Getränke dort.“

Ich dränge mich in die Küche und finde Sekt und kippe ihn mir aus der Flasche in den Mund, und draußen spielt die Band einen schnellen Walzer, und jetzt erst merke ich, wie hungrig ich bin. Seit unserem angespannten Abendessen gestern habe ich nichts gegessen. Ich schiebe mich zum Buffett und suche nach Tellern. „Wo sind denn hier die Teller?“, frage ich erneut die Herumstehenden, und kurz merke ich, wie verrückt das ist, in meinem eigenen Haus nach Tellern zu fragen. Im Küchenschrank, will ich mir selber antworten, da reagiert bereits die gelockte Person. „Die Teller? Ja, haben Sie denn keinen?“

Wir schauen uns in die Augen. Es ist so skurril hier, dass ich glaube zu träumen. Mir wird das jetzt klar. Das hier, das ist wie ein Traum. Es ist echt und vollkommen abwegig zugleich. „Nein“, sage ich verwirrt: „Was meinen Sie?“

Die Person setzt zu einer Antwort an, da kommt ihr der hagere, große Mann zuvor, der von irgendwoher auftaucht. „Das hier, das ist doch unsere Gastgeberin“, belehrt er die gelockte Person und hält mir dann einen Teller vor die Nase. Es ist der Teller, auf dem das Zitat von Morgenroth geschrieben steht. „Sie kennen die Geschichte der Teller nicht?“, fragt er mich und wedelt mit seinem Teller.

Ich merke jetzt den Sekt, und dass mein Magen beständig leerer wird, und dann höre ich, wie mir der hagere Herr erzählt, dass sie alle eine Hochzeitsgesellschaft gewesen seien vor vielen Jahren. Schon Jahrzehnten, schiebt er nach. Sie seien alle befreundet gewesen mit einem Paar, das zur Hochzeit geladen hätte, und dann sei einen Tag vor der Hochzeit die Braut abgehauen. Mir nichts dir nichts abgehauen, sagt der Herr und reckt beide Hände mitsamt Teller in die Höhe.

Es habe also keine Hochzeit gegeben. Sie hätten sich dennoch getroffen, um dem Bräutigam beizustehen, und das bestellte Buffett gemeinsam zu essen. Ohne Hochzeit. Von all diesen Tellern. Denn das sei ihr Hochzeitsgeschenk gewesen. Jeder Gast habe einen Teller mit guten Wünschen beschrieben und mitgebracht. Die Brautleute hätten sich Geschirr gewünscht. Und sie hätten dann die Idee mit den Sprüchen gehabt. Und dann wäre die Hochzeit ins Wasser gefallen. Später hätte sich herausgestellt, dass die Braut mit einem anderen durchgebrannt sei. Und der Bräutigam sei alleine zurückgeblieben. Mit seinen Tellern. Sie hätten sich jedes Jahr zum Hochzeitstag, der ja kein Hochzeitstag geworden sei, zusammengefunden, mal mehr von ihnen, mal weniger. Es habe sich da so etwas Gemeinschaftliches draus ergeben. Sowas Schönes. Das sei immer ein Halt gewesen. Auch als der Bräutigam schließlich gar nicht mehr dabei gewesen sei, weil er ins Ausland gezogen sei, da hätten sie sich weiter getroffen. Allerdings ohne die Teller. Denn die habe der Bräutigam weggegeben. Das habe er so gesagt und nicht weiter darüber sprechen wollen. Abschließen habe er das genannt. Das hätten sie alle verstehen können. Und doch hätten ihnen diese Teller gefehlt. Sie hätten sie gesucht. Auf Flohmärkten, in Second Hand Läden. Das sei irgendwie ihr Symbol gewesen in den Jahren zuvor. Der Zusammenhalt. Sie seien nicht aufzufinden gewesen. Bis jetzt. „Bis jetzt hier bei Ihnen“, schließt der Herr seine Rede. „Was für ein großes Glück. Wir sind alle Teil einer Gemeinschaft, und Sie gehören jetzt dazu.“

Er schaut mich mit großen Augen an. Mir ist schwindelig. So ist das also, denke ich und verstehe überhaupt nichts mehr.

„Fein“, sage ich.

Ich höre ihn noch „Beständigkeit und Wandel“ rufen, da bin ich schon aufgestanden. Ich hole mir einen meiner braunen Teller aus dem Küchenschrank. Ich muss jetzt etwas essen. Ich belade ihn, esse neben dem Buffett im Stehen, trinke Sekt aus einer weiteren Flasche und proste dem hageren Herrn zu, der noch auf dem Sofa sitzt. „Wie schön, dass Sie Ihre Teller hier bei mir gefunden haben“, rufe ich gegen die Band an, die jetzt die Stones spielt, und dann fallen mir die Wasserhähne ein, und ich kontrolliere, ob sie noch fließen. Sie sind alle aus. Die Hochzeitsgesellschaft hat sie abgestellt, und ich drehe sie wieder auf. Es ist mein Haus. Es sind meine Hähne. Ich laufe ins Wohnzimmer, springe auf den zur Tanzfläche ernannten Hochflorteppich und tanze, indem ich meine Gliedmaßen von mir schmeiße. Wild. Unkoordiniert. Ich falle in Menschen, und zweimal lande ich auf dem Boden. Ich singe. Ich halte Reden. Die Gesellschaft ist betrunken, und ich bin es auch. Wir verstehen uns prächtig.

Als es hell wird, überkommt mich die Müdigkeit. Ich suche unser Bett, mein Bett, finde schlafende Partygäste und deinen Geruch. Ich irre weiter, kehre schließlich zurück ins Wohnzimmer und aufs Sofa und erkläre der Person neben mir, dass ich nur kurz die Augen schließen werde. „Ich muss ja dann gleich auch zur Arbeit.“

Als ich aufwache, ist alles gut. Für zwei Sekunden ist alles gut. Dann überfällt mich die Realität. Du hast mich verlassen. Du bist weg. Wie ein Schlag durchfährt mich der Schmerz. Ich liege auf dem Sofa, umklammere den Teller mit der Sonne und fühle mich verkatert, entkräftet, zerstört. Langsam setze ich mich auf, stelle mich hin. Mir tut der Körper weh. Vor der Terrassentür maunzt kläglich die Katze. Ich lasse sie rein, schlappe in die Küche, gebe ihr Futter. Laut Küchenuhr ist es Mittag. Gedankenverloren stehe ich auf dem kalten Boden. Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Also gehe ich durchs Haus, und da liegen die Teller. Auf dem Tisch, auf dem Sofa, auf dem Bett, auf dem Klodeckel, auf deinem Plattenspieler, auf meinem Lieblingshocker, im Spülbecken, überall. Ich fasse sie an, fahre ihnen um die Ränder, rieche an ihnen. Dann fallen mir die Wasserhähne ein. Jemand hat sie abgestellt. Ich öffne alle Wasserhähne. Das Rauschen des Wassers beruhigt mich. Es wirkt lebendig. Gierig trinke ich aus jedem Einzelnen und denke an die Hochzeitsgesellschaft. Vielleicht ist es gut, dass sie da gewesen ist. Sie kommen nächstes Jahr wieder, haben sie zum Abschied gesagt. Und dann haben wir gesungen auf der Straße. Und dass ich jetzt zu ihnen gehöre, das haben sie betont, als ich geholfen habe, die leeren Buffetplatten ins Auto zu laden. Und während ich mich über die Badewanne beuge und mir das laufende Wasser mit der rechten Hand in den Mund schaufle, überkommt mich ein Funke Hoffnung. Vielleicht ist es gut, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Ich denke an den hageren, großen Herrn und spüre Verbundenheit. Inmitten all dieser Teller empfinde ich Verbundenheit mit dem, was war, mit dem, was ist, und mit dem, was sein wird.

Und ich denke, vielleicht kann es einen Halt geben, ohne Dich.

© Mirjam Sarrazin

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