„Übergestern hat er immer gesagt“, sagt mein kleiner Bruder, der zu dicht neben mir steht wie versteinert und eine Reaktion will. Will. Immer weiter will.
Ich hänge mit einem angewinkelten und einem seitlich ausgestreckten Bein auf dem morschen Küchenstuhl, vornübergebeugt, meine Haare im Ketchup und stopfe die kalten Pommes in mich hinein. Ohne Ketchup. Ich hasse Ketchup.
„Hat er doch?“
Er ist mir zu nah, zu eng, zu viel, zu erstarrt.
Er kriegt mich nicht.
Ich esse, ich stopfe, ich würge kurz, nächste Pommes, starre auf die Zeitschrift, die halb unter dem blau geblümten Teller liegt und halb über den Küchentisch hinausragt und verstehe kein Wort. Interessiert mich nicht. Draußen die Hitze. In dieser Küche der Ventilator und die kalten Pommes vom Dönerladen. Ich esse kein Fleisch mehr. Also bringen sie mir Pommes. Weil ihnen nichts anderes einfällt. Sie können nur Döner. Sie sagen: „Bro, alles klar? Mach mal fünf Döner!“ Und dann: „Ach nee, die Kleine will ja Pommes. Mach mal trotzdem fünf und einmal Pommes.“
Ich weiß nicht warum sie den fünften Döner trotzdem bestellen und mitbringen. Er landet immer im Müll. Und das Fleisch aus dem Döner meines kleinen Bruders auch. Er mag nur das Brot und den Salat.
Meine Mutter kommt in die Küche. Sie redet irgendwas von Wäsche und von Kochen, und sie spricht Fast Food aus, als sei es ein deutsches Wort, und das klingt doppelt schräg.
Die Pommes sind alle. Ich dippe mit meinem Finger das verbliebene Salz und lutsche es ab.
Mein Bruder weint direkt neben mir. Weil ich nicht reagiere.
Meine Mutter schlägt mir mit dieser schnellen Geste an den Hinterkopf. Das ist nichts Ernstes, fast eine Zuwendung. Früher hätten wir jetzt zusammen gelacht, ich hätte mich entschuldigt. „Sorry Bro, war in Gedanken woanders. Komm. Ich drück dich.“ Und hätte ihn gedrückt, diesen kleinen Bruder.
Jetzt raste ich aus. Ich springe auf, fege den Teller vom Tisch, knalle die Tür. Jetzt heult meine Mutter. Ich verschwinde durch das enge Treppenhaus nach draußen. In die Hitze.
Ja, er hat immer übergestern gesagt. Und jetzt sagt er nichts mehr. Tot. Weg. Vorbei.
Übergestern war vor langer Zeit, und dann haben sie ihn überfahren. Vorne an der Hauptstraße. Weil er losgerannt ist. Aus dem Buggy aufgestanden und los. Dass er überhaupt so schnell rennen konnte. Kein Mensch weiß, wo er hinwollte. Zack. Da war das Auto. Erzählen sie. Ich erinnere mich nicht. Obwohl ich dabei war. Direkt daneben. Zu nah. Zu dicht. Oben am Himmel dieses Flugzeug. Es war, als würde es sich nicht bewegen. Einfach stehen geblieben. „Bro fick deine Mutter“, sagen meine großen Brüder, wenn sie an der Stelle vorbeikommen, und dann küssen sie sich. Ich sage irgendwie gar nichts. Da ist einfach nur dieses Flugzeug in meinem Kopf.
Wir waren fünf. Zwei große Brüder und zwei Kleine. Und ich dazwischen. Wir sahen alle gleich aus. Nur die Haare. Die waren rot beim Jüngsten. Und bei mir lang. Ich liebte meine langen Haare.
Seitdem ist alles anders. Seitdem rede ich nicht mehr mit meinem kleinen Bruder und die Großen nicht mehr mit mir. Seitdem schlägt meine Mutter mich auf den Hinterkopf, und plötzlich tut es weh. Seitdem raste ich aus. Seitdem sind wir Stammkunden im Dönerladen, und meine Mutter hat diesen Ventilator gekauft, obwohl sie die Hitze früher liebte. „Diese Hitze hält ja keiner aus“, sagt sie und flucht, und bei uns hält niemand mehr irgendetwas aus.
Ich renne die Straße entlang. Oben am Himmel das Flugzeug. Es ist geblieben.
Ich setze mich hinter den Schuppen vom Imbiss. Hier sieht mich keiner. Ich rieche das Essen. Und ich sehe die Pistole, die der Besitzer hier versteckt. Alle wissen, dass er sie hat. Sie kann nützlich sein, hier in dieser Gegend, nachts alleine in einem Imbiss. Meine großen Brüder haben sich früher bepisst vor Lachen, wenn sie nachgespielt haben, wie er sie hält und abfeuert. Sie haben ihm das nicht zugetraut. Sie trauen niemandem etwas zu. Und jetzt sowieso nicht mehr. Trotzdem hängen sie im Imbiss rum, grüßen jeden und verstehen sich blendend.
Ich war mit der Schwester des Besitzers befreundet früher im Kindergarten. Ich war oft bei ihr zu Hause, und manchmal durften wir übernachten. Ich liebte das eingelegte Gemüse und die dicken Federbetten, die sie hatten. Und den Kater mit seinem weichen Katzenbett, in dem ich mit ihm kuschelte.
Jetzt sitze ich hier und sehe die Pistole. Die mich nicht interessiert. Mich interessiert die Leiter daneben. Es ist viel los im Imbiss. Meine Brüder sind nicht da. Sie hängen irgendwo im Zentrum und trinken Energy und fahren irgendwann mit der Bahn zurück nach Hause. Sie langweilen sich. „Bro“, rufen sie quer über die Straße. „Was geht?“
Ich kann den Himmel nicht sehen aus meinem Versteck, aber ich weiß auch so, dass das Flugzeug noch da ist. Ich habe mich damit abgefunden, dass es nicht mehr verschwindet. Ich rieche das Essen, höre das Zischen des Fetts, die verwaschenen Stimmen. In meinem Bauch gibt es diese Bilder. Die hole ich mir jetzt raus. Es sind diese Gerüche hier hinter dem Imbiss, die sind wie Angeln, die ich ausfahre und wieder einhole, sobald es ruckt. Ein langer Tisch. Dieses Licht. Dieser Glanz. Das Grün der Bäume. Die Farben der Blüten. Hühner irgendwo. Lachen. Überall Lachen. Überall Menschen. Und alle warm. Und nah. Es gibt viel zu Essen. Es sind andere Gerüche als die des Imbisses, und nach und nach legen sie sie sich darüber. Kraftvoll. Stark. Über die reißfeste Angelschnur balancieren sie zu mir, finden Eingang in mein Gehirn. Machen es sich bequem. So wohltuend wie Schlaf, auf den ich so lange schon warte. Ich schmecke frisches Brot. Würziges. Ich schmecke den Kuss meiner Oma und gleichzeitig den Saft der Orangen. Ich rieche säuerlich und scharf und mein Bauch wird so schwer und angenehm, dass meine Augen sich anfühlen wie fiebrig. Hier in meinem Versteck hinter dem Imbiss, mit Blick auf die Pistole. Und die Leiter daneben.
Übergestern sind wir regelmäßig zu den Großeltern geflogen. Übergestern nahm meine Mutter meinen winzigen Bruder, setzte sich auf die Hollywoodschaukel etwas abseits des Tisches, zog ihr großes, weiches Tuch zurecht und gab ihm ihre Milch, beschützt, behütet.
Übergestern gibt es nicht mehr.
Mein winziger Bruder lebt jetzt in einem bewegungslosen Flugzeug am Himmel.
Die Bilder flirren vor meinen Augen, ich setze sie Sprosse um Sprosse in die Leiter ein, bis die Leiter so betörend duftet wie es der Imbiss niemals schaffen wird. Es ist eine neue Leiter. Sie glänzt. Man kann sie ausfahren. Bis sie einrastet. Ich befülle sie mit meinen Bildern. Voller Gerüche. Voller Wärme. Geborgenheit. Milch. Übergestern hat mein winziger Bruder gesagt. Sie wächst, die Leiter, wie diese Rankpflanzen in diesen Computerspielen. Bis weit in den Himmel wächst sie. Und jedes Bild, jeder Geruch verleiht ihr mehr Stabilität. Ich befestige sie mit diesen kleinen Haken am Flugzeug. Ich rieche ihn nun, meinen winzigen Bruder. Da sitzt er und hält seine Dinos in der Hand, und sie sind wild. Dabei hüpft er. Immer hüpft er. Seine roten Haare fliegen. Sie sind gewachsen in letzter Zeit. Sie fallen ihm über die Ohren, in die Augen. „Bro“, sage ich liebevoll. „Ich werde dir die Haare schneiden müssen.“ Und er hüpft und kreischt: „Nein, das mag ich nicht!“ Wir essen das frischgebackene Brot. Dippen abwechselnd in den Humus.
Und in meinem Bauch füllt es sich mit Weinen und Wärme, und übergestern zieht ein kleines Stückchen weiter an mir vorbei.