Die Hexe und die Echse

Wilde Blumen und Kräuteransammlung von unten fotografiert. Sonne scheint durch.

Es ist ihre Lieblingsbeschäftigung. Es ist ein Beenden des Tages, ein bewusstes Verabschieden, ein Betreten der Nacht, ein meditatives Summen in ihrem Inneren. Es ist ein Übergang. Sie hätte sich längst einen Schlauch montieren können oder eine Pumpe kaufen. Sie hätte einen Brunnen graben und bauen können, und diese Idee schwirrt ihr in jedem Jahr aufs Neue in ihren zahlreichen Gedanken herum, sobald es Frühling wird. Bisher hat sie sich jedes Mal aufs Neue dafür entschieden, ihrem Abendritual mit der gelben Gießkanne treu zu bleiben und die Kräuter per Hand zu wässern. Es braucht Zeit. Und Kraft. Und die Echse schüttelt mit dem Kopf. Das gehört dazu. An jedem Abend von Frühjahr bis Herbst. Die Echse schüttelt den Kopf, die Hexe gießt mit der gelben Kanne, und dann macht die Echse einen Abendspaziergang durch den dichten Wald, der ihr Häuschen umgibt. Anschließend sind die Kräuter gewässert, und die Hexe ist müde und möchte jetzt rein und etwas essen und dann ins Bett.

Sie heißen so. Hexe und Echse. Sie haben keine anderen Namen. Manchmal lachen sie zusammen, wenn ihnen auffällt, dass es sich reimt. Sie freuen sich darüber. Meistens aber denken sie nicht darüber nach. Sie brauchen keine Namen. Sie rufen sich nicht. „Echse, komm mal rüber.“ oder „Hexe, was machen wir heute?“. Sie leben zu zweit. In einem wohnlichen Haus mit einem überschaubaren Garten. Und wenn die eine ruft, weiß die andere, dass sie gemeint ist. Und wenn sie keine Lust auf eine Unterhaltung hat oder einer Bitte nachzukommen, dann tut sie so, als habe sie die andere nicht gehört. Aber Namen brauchen sie dafür nicht.

Wenn sie auf den Markt oder in den Supermarkt gehen, fragen die Leute manchmal, ob sie denn keine Namen hätten. Sie denken, man könne nicht ohne Namen leben. Die Leute fragen auch, ob sie miteinander verheiratet oder verwandt seien. Mutter und Tochter. Oder Freundinnen. Oder ob sie nur so zusammenleben würden. „Nur so“, sagen sie.

Die Hexe und die Echse antworten darauf nicht. Sie wissen keine Antwort. Manchmal aber lachen sie. Später. Wenn sie wieder Zuhause sind.

Die Hexe hatte wohl mal einen Namen. Früher. Den hat sie weggegeben vor langer Zeit. Die Echse hatte nie einen Namen. Sie hatte einen Schrecken und eine Angst. Sie erinnert sich daran noch sehr gut. Aber davon fangen wir hier lieber nicht an. Das mag sie nicht, die Echse. „Es ist lange her“, sagt sie. Und so soll es auch bleiben.

Der Garten ist über und über bewachsen mit Kräutern. In allen möglichen Formen und Farben. Sie überwuchern den Zaun aus Holz, einen Teil des Häuserdachs, den Schuppen, liegengebliebene Gartengeräte, Maulwurfshügel, eine weggeworfene Unterhose, Ameisenberge, Rattenlöcher, Wege, diesen einen, alten Apfelbaum, das Mäuerchen und die Stellen ohne Licht.

Die Hexe arbeitet den ganzen Tag an ihren Kräutern. Sie gräbt, sät, pflanzt, reißt aus, setzt ein, pflegt und hegt und braut Tränke und Tinkturen, reibt und sägt, erfindet Salben und Cremes. Und sie summt dabei.

„Das ist Zauberei“, sagen die Leute, die sich hinter den Bäumen und Büschen um das Häuschen herum verstecken, wenn es los geht. Wenn die Hexe sich streckt und die Echse sich ausbreitet inmitten dieser Kräuter, und die Hexe ihre rauen, riesigen Schuppen massiert. Und summt. Ihre Kräutermixturen aufwärmt in dem kleinen Kessel und sie erst über ihre Hand und dann über die langen Gliedmaßen der Echse fließen lässt. Warm. Weich. Schützend. Ihre cremigen Finger in eine Schale mit Eiswürfeln taucht, sie knetet, mit ihnen seitlich am Körper der Echse entlang fährt. Und es geht ein Raunen durch den Wald.

„Sie kümmert sich um die Echse, und ich spüre diese tiefe Trauer in mir, und dann, am Ende, wenn sie fertig ist, ist die Trauer umhüllt wie in einer Seifenblase und fliegt davon und hinterlässt etwas Gutes in mir“, lässt sich hören.

„Es ist diese Schwere in mir. Ich fühle mich nutzlos. Sinnlos. Leer. Und dann schaue ich dabei zu, wie sie die Echse eincremt, und plötzlich kriege ich Lust, meine Freundin anzurufen und einen Spaziergang zu machen. Einfach so. Wie aus dem Nichts.“

„Ich habe diese Wut. Ich schlage gegen die Wand, und es tut mir alles weh danach. Wenn ich es schaffe und einmal in der Woche in den Wald gehe und zuschaue bei ihrem Hokuspokus, dann fühle ich mich so frei. So unbeschwert. Das ist doch verrückt.“

Natürlich wissen die Hexe und die Echse, dass sie da sind. Alle sind sie schon mindestens einmal da gewesen, hinter den Bäumen und Büschen. Manche heimlich, andere machen keinen großen Hehl daraus. Die meisten kommen regelmäßig.

Und das ist gut, auch das wissen die Hexe und die Echse. Irgendwann werden sie es merken und verstehen, dass es keine Zauberei ist. Sie werden feststellen, dass sie alle in sich diesen Kräutergarten haben und eine Hexe und eine Echse, und dass diese beiden sich gut versorgen tief in ihrem Inneren. Sie werden verstehen, dass es keine große Kunst ist, den Weg zu finden zu diesem Kräutergarten. Dass es lediglich ein wenig Mut braucht.

Es ist gut, dass sie zuschauen. So werden sie es irgendwann verstehen und als warme Weisheit tief in sich tragen. Das ist wichtig. Denn der Kräutergarten wuchert und wächst und irgendwann wird es soweit sein. Überall werden Kräuter sein. Gigantische, große, schützende Kräuter. Sie werden duften. Vernebeln. Betören. Es wird bis in die dunkelste Ecke im Wald, bis in den traurigsten Winkel im Dorf und weit hinaus über die Berge zu riechen sein. Überall. Und geborgen tief darunter die Echse und die Hexe. Sie werden sich umarmen. Kichern. Vielleicht Tanzen. Schlafen. Wie ein Himmel voller Sterne wird diese schützende Decke über ihnen sein. Bis es weiter geht. In einem anderen Wald. Bei einem anderen Dorf. Auf einem anderen Markt. Vielleicht direkt in deiner Nähe?

© Mirjam Sarrazin

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.