Als ich mich gestern selbst anrief, ging jemand anderes dran. Jemand, den ich nicht kannte. Mit einer tiefen Stimme und einem leichten Kratzen beim Sprechen.
Ich war an diesem öffentlichen Telefon vorbeigekommen und folgte dem Impuls, den pinkfarbenen Hörer abzunehmen, Münzen in den Schlitz zu werfen und meine Nummer zu wählen. Vielleicht aus nostalgischen Gründen. Schon klingelte mein Handy irgendwo tief in meinem Rucksack. Und dann hörte ich ihn. „Hallo?“
Wir haben eine halbe Stunde miteinander gesprochen und bekamen eine Ahnung voneinander. Mit seiner tiefen Stimme erzählte er, er stünde mitten im Regen und hielte einen sehr großen Blumenstrauß in der Hand. Im Blumenladen hätte die Dame ihm den Strauß liebevoll in ein großes, dünnes Papier gewickelt, und dieses Papier läge nun am Boden, da es in dem strömenden Regen keinen Nutzen gehabt hätte und sowas wie auseinander gefallen wäre.
Ich konnte mir kein richtiges Bild davon machen. Sowas wie auseinander gefallen
War es auseinandergefallen, oder war es noch zusammenhängend und lag lediglich nass am Boden?
Er setzte hinterher: „Das Papier hat absolut keinen Schutz geboten.“
Und ich schob meine Bilder zur Seite und konzentrierte mich auf meinen Gesprächspartner, der nun fragte, was er jetzt mit diesem Papier machen sollte?
Ich fragte zurück, was er für Blumen in seinem Strauß und für wen er sie gekauft hätte, weil sich jetzt doch wieder Bilder einmischten, und ich die Hoffnung hatte, Unklarheiten zu beseitigen.
Er schwieg. Meine Fragen hatten ihn offenbar aus dem Konzept gebracht. Oder er mochte sie nicht. Er seufzte. Auch das klang tief und ein wenig kratzig.
„Lilien“, sagte er dann. Weiße und auch welche in rosa. Für wen wüsste er nicht.
„Ich habe diesen Mann gesehen mit den Lilien in der Hand, und er sah so glücklich aus. Da habe ich beschlossen, auch einen Blumenstrauß zu kaufen“, sagte er, und seine Stimme quietschte jetzt. Glücklich sein, erzählte er mir, das fehlte ihm schon so lange.
Mir fiel das am Boden liegende Papier wieder ein, und ich fragte, ob es noch dort läge, und er bejahte und fing an zu weinen. Ich hatte mich also angerufen und sprach nun mit einem Unbekannten mit dunkler, kratziger Stimme und kleinen quietschigen Sprenkeln, der irgendwo stand. Im Regen. Und weinte. Ausgelöst durch meine Frage nach dem Papier auf dem Boden, sowas wie auseinander gefallen.
Ob es noch regnen würde, fragte ich. Auch das bejahte er. Und weinte weiter. Schluchzend, quietschend, kläglich. Ich bot ihm an, mir das Papier zu geben. Ich konnte sein Weinen nicht aushalten. Ich fühlte mich dem ausgeliefert. Hineingezogen. Ich fühlte mich vom Regen durchnässt, in dem nicht ich, sondern er stand.
Ich entschuldigte mich bei ihm, dass ich vermutlich auch keine Verwendung für das Papier haben würde und teilte ihm vorsichtig mit, dass ich die Idee hatte, dass es ihn entlasten könnte, dieses dünne Stück Papier, das keinen Schutz bot im Regen, jemand anderem zu überlassen. Vielleicht auch nur vorübergehend? Als Leihgabe? Ich bot mich ihm als vorübergehende Besitzerin des Papiers ohne Schutz an.
Er schwieg. Ob er nachdachte? Mit seiner tiefen Stimme? Kratzte es dabei in seinem Kopf? Er war sehr still, und ich hatte Sorge, er wäre verschwunden. Dann aber hörte ich das Kratzen bis zu mir. Bildete ich mir ein. Es war laut, sein Nachdenken. Und angestrengt. Er schluchzte noch einmal und sagte dann mit einem quietschigen Sprenkel in der Stimme: „Ja. Ja, vielleicht. Vielleicht könnte das gehen.“
„Also mit dem Papier meine ich. Und dem fehlenden Schutz“, setzte er nach einigen Sekunden kratzenden Denkens hinterher.
Ich bedankte mich für sein Vertrauen und versprach ihm, gut acht zu geben auf das Papier. Er gab es mir dann. Es triefte vor Nässe, und als ich es jetzt in meiner Hand hielt, wusste ich, was er gemeint hatte mit sowas wie auseinander gefallen. Mir wurde klar, dass ich kein Bild davon hatte entwickeln können, ohne es bei mir zu haben. Jetzt aber, als ich es hielt, überkam mich dieses sehr starke und bestimmte Gefühl, und ich war froh, die passende Definition bereits zur Verfügung zu haben. Sowas wie auseinander gefallen.
Ich ließ es in meiner linken Hand nach unten hängen. Nass, schnoddrig, klumpig. Ich beachtete es nicht mehr. In der rechten Hand hielt ich den pinken Hörer.
„Geht es Ihnen besser?“, fragte ich hinein. Ich hörte dieses Seufzen.
„Ja“, quietschte er, und ich spürte Erleichterung. „Es regnet jetzt nicht mehr“, sagte er. „Der Himmel ist grau. Die Lilien sind nass, und ich bin es auch. Ich fühle mich nicht so glücklich, wie ich dachte, dass ich es sein würde mit einem Strauß Blumen in der Hand.“ Er seufzte, machte eine kurze Pause. „Aber es regnet nicht mehr.“
Er sprach das monoton. Als seien es Nebensätze, die sich verloren hatten. Ohne Bezug.
„Wie schön“, sagte ich und nahm irritiert ein Quietschen wahr in meiner Stimme. „Dann können Sie jetzt trocknen. Und die Lilien.“
Ja, das wäre wohl so, stimmte er mir zu.
„Möchten Sie das Papier dann jetzt vielleicht wieder haben?“, fragte ich ihn. Ich war hoffnungsvoll. „Ohne den Regen könnte es seiner Schutzfunktion wieder nachkommen“, schlug ich vor und warf einen Blick auf das schlaffe Papier in meiner linken Hand.
Es blieb ruhig in der Leitung. Sehr ruhig. Ich hörte gar nichts. Ich spürte nichts.
„Ja?“, fragte er dann so unerwartet in die Stille hinein, dass ich erschrak. „Wovor soll das Papier die Lilien schützen?“, fragte er irritiert.
Und da war das Bild plötzlich scharf vor meinen Augen. Wie er da stand nach dem Regen. Nass. Frierend. Mit dem grauen Himmel. Um ihn herum Alltagsgeschehen. Und er irgendwie raus. Alleine. Sowas wie auseinander gefallen. Und die Lilien in seiner Hand. Weiß und rosa. Es waren genau sieben. „Wieso sieben?“, fragte sich mein Gehirn und bekam keine Antwort, weil ich das Bild scharf stellte, die Lilien riechen konnte, die grünen, starken Stängel betrachtete, die Blätter. Was für schöne Blumen.
„Vor dem Glück? Vielleicht schützt das Papier die Lilien vor dem Glück?“ Ich sprach jetzt laut und deutlich, und all das Quietschen war verschwunden. Und die Unsicherheit.
Ich wusste nicht, wie er reagieren würde. Es ergab keinen Sinn, was ich sagte, dachte ich und spürte das Gegenteil.
Er reagierte unerwartet. Und doch stimmig. Er kicherte. Es war so ein kehliges, fast verschlucktes Kichern. Es klang abgehackt und fremd durch den Hörer. Ich hielt den Hörer ein wenig von meinem Ohr weg.
„Meinen Sie?“, fragte er und kicherte.
„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete ich und hielt mir das Papier vor das Gesicht. „Ich schaue mir das Papier gerade an. Es sieht nicht so aus, als könnte es vor irgendwas schützen. Ehrlich gesagt. Wenn ich es mir genau überlege.“
Er kicherte jetzt sehr laut. Sehr kehlig und verschluckt und sehr laut. Fast ein Husten. Er setzte zum Sprechen an, aber es gelang nicht, weil ein Kichern unterbrach.
Er holte tief Luft.
„Na, dann geben Sie es mir mal her. So wie Sie das beschreiben, scheint es mir das perfekte Papier, um die Lilien vor dem Glück zu beschützen.“ Seine Stimme war jetzt eine Mischung aus kehligem Quietschen und tiefem Kichern, und vielleicht war es beinahe ein Glucksen.
Ich gab ihm das Papier.
„Ich danke Ihnen sehr“, sagte er. Ich hörte ihn werkeln. „Ich habe das Papier jetzt um die Lilien gewickelt, und ich muss Ihnen sagen, es war die richtige Entscheidung. Vielen Dank für Ihre Zeit.“ Das sagte er noch. Und dann unterbrach er die Verbindung. Ohne Vorwarnung. Ohne Abschied. Er war plötzlich weg.
Und zoomte das Bild heran, sah ihn die Straße hinunterlaufen. Mit den sieben Lilien in der Hand und dem darum gewickelten Papier.
Und ich hängte den pinkfarbenen Hörer ein, kramte in meinem Rucksack nach dem Handy, kein Anruf in Abwesenheit, steckte es in meine Jackentasche und lief stadteinwärts. Sowas wie zusammen gewachsen.
© Mirjam Sarrazin