Er läuft durch die Humboldtstraße und denkt darüber nach, ob alle Humboldtstraßen dieser Welt voller Altbauten stehen, verziert von Beeten, in denen leuchtende Sonnenblumen und sprießende Wildsamen unter einer Allee hoher Bäume wachsen. Er weint. Er weint, weil die Blätter sich rot verfärbt haben und nun auf dem Asphalt liegen und achtlos zertrampelt werden. Er weint, weil der Kinderroller seit Wochen an dem verrottenden Bauzaun lehnt. Nach wie vor. Und vielleicht ist er einsam. Oder das Kind. Er weint, weil die lila Farbe der Bank vor dem geschlossenen Café abblättert, und direkt daneben dieser vertrocknete Regenwurm liegt, der es aus der überflutenden Erde geschafft hat. Und dann nicht wieder zurück. Er weint, weil das Baby in dem Buggy, der ihm entgegenkommt, ohne Decke schläft. Zur Seite gekippt vor Müdigkeit. Zwischen der Babyjeans und den Söckchen nackte Haut, und er zieht den Reißverschluss seiner Regenjacke höher. Er friert.
Vor dem Supermarkt bittet ihn eine Frau um Geld für ein Zugticket, das sie kaufen möchte, und ihre Augen sind starr. Er reicht ihr eine Münze, sie bedankt sich. Und er weint. Während er den Supermarkt betritt und an dem alten Mann vorbei geht, der steht und mit dem Kopf schüttelt und mit wackeliger Stimme das leere Fach im Regal fragt: „Wo bist du denn nur hin?“ Und sich suchend umschaut und es nicht fassen kann.
Er erledigt seine Einkäufe, und auf dem Rückweg bleibt er stehen an dem dreckigen Stadtgewässer, in dem er einen Krebs entdeckt, einen echten Krebs, der flink unter einem tauchenden E-Roller hindurch krabbelt und sich dann in einer Plastiktüte verfängt. Kämpft. Sich befreit. Und weiter krabbelt. Inmitten von Müll. Und direkt daneben sitzt der junge Mann, der dort immer sitzt mit seinen Decken, den Taschen und Büchern, und heute liest er „Seide“ von Baricco, und da weint er wieder.
Innen. Aushaltbar. Nach außen unsichtbar. Gut getarnt von diesem Schutzanzug, der ihn von außen unangreifbar und von innen unverwundbar macht. Dieser Anzug aus Vergänglichkeit, aus Verletzlichkeit. Geschneidert aus tief roten Herbstblättern und sprießenden Wildblumensamen, aus liebevoll gestrickten Decken voller Wärme und Zuversicht. Ein Anzug aus Verbundenheit. Ein Roller, der sich nächtelang Märchen mit einem Bauzaun erzählt. Über Kinder, die Wettrennen fahren und noch aus den Hinterhöfen viele Straßen weiter zu hören sind. Zwischen Mauern voller Lachen und Feuereifer. Es ist ein Anzug aus nahrhafter Erde, in dem altes Leben verrottet und neues wächst. Ideen und Träume entstehen. Voller Sehnsucht und Wärme. Ein bunter Anzug. Bunt wie der Regenbogen, der sich im dreckigen Wasser spiegelt, und prall gefüllt mit Kraft. Wie die Geschichten, die man sich über Regenbögen erzählt. Ein Anzug voller Verlässlichkeit.
Bis der Wind kommt.
Und ihn wegreißt.
Alle paar Wochen. Manchmal Tage.
Dann steht er da.
Wie nackt. Verletzt. Verloren. Erschüttert. Schwitzend unter klirrender Kälte im tiefsten Herbststurm. Und weint. Ungeschützt.
Und fängt von vorne an.
Strickt Babydecken aus Wollresten, die in einem Korb neben dem Bücherregal verstaut sind. Kippt Samen in die Kästen auf seinen Fensterbänken, pflegt sie, spricht mit ihnen, erzählt ihnen von Regenbögen und öffnet die Fenster der Wohnung für sie, wenn Kinderlachen von außen zu hören ist. Sucht tote Insekten und bestattet sie, zieht den Duft von frischer Erde tief in sich ein. Harrt aus. Wartet. Hofft. Wärmt sich mit Tee. Tief innen. Wagt sich irgendwann wieder auf die Straße. Unter die Leute. Dünnhäutig. Vorsichtig. Mit zittrigen Beinen traut er sich den Weg quer durch die kleinen Seitenstraßen wieder zu. Bis zu dem Laden der Schneiderin, die exklusive Männeranzüge nach Maß herstellt. Mit diesen alten Sesseln, auf denen er noch nie gesessen hat und von denen er dennoch weiß, dass sie Geborgenheit schenken.
Und die kleine Glocke bimmelt, als er eintritt. Die Schneiderin lächelt, und er schließt die Tür und sagt, er sei jetzt wieder soweit.
„Wie immer?“, fragt sie und sieht ihn aufmerksam an. Direkt in die Augen.
Und er nickt.
„Was meinen Sie? Sollten wir die Maße nochmal nehmen?“, fragt sie und greift nach dem Maßband, das neben ihrer Nähmaschine auf dem Arbeitstisch liegt.
Er schüttelt den Kopf. „Es wird schon passen. Ich habe mich nicht sonderlich verändert.“
Und mit dieser unbeholfenen Geste öffnet er die große blaue Plastiktüte, die er mitgeschleppt hat. „Wo darf ich den Stoff ablegen?“, fragt er, und da ist Unsicherheit in seinen Augen.
Sie kommt hinter ihrem Arbeitstisch hervor, wirft einen schnellen Blick in die Tüte, streicht die Hand kurz durch ihr Gesicht, überlegt und holt dann einen großen, leeren Korb aus dem Nebenzimmer: „Hier müsste alles hineinpassen, was meinen Sie?“
Er leert die blaue Tüte in den Korb. Seine Arbeit der letzten Wochen liegt nun in diesem Korb. Er ist übervoll. „Es ist wunderschön“, sagt sie und hat dieses Glänzen in den Augen mit Blick auf den leeren Korb voller Inhalt, und sie verspricht ihm, sich zu melden, sobald sie fertig ist. „Es kann ein wenig dauern. Ich habe viel zu tun im Moment“, gibt sie zu bedenken und schaut ihm dabei ernst entgegen.
Er hat sich bereits gedreht zum Gehen und lächelt. „Ich weiß“, sagt er, öffnet die Tür und schließt sie wieder. Mit dem Bimmeln. Und nun weint er offen. Den ganzen Rückweg nach Hause weint er. Und es stört ihn nicht, dass die Leute schauen und dass er manchmal Geräusche macht. Es ist so eine Erleichterung in ihm. So eine Dankbarkeit. Es kann ein wenig dauern. Und dann wird er seinen neuen Anzug abholen. Exklusiv für ihn geschneidert. Er wird ihn tragen, und er wird ihn schützen. Ihn durch die Trauer tragen. Durch das Leben.
Bis der Wind kommt.
Und ihn wegreißt.
In diesem Herbst. Noch einmal. Noch zweimal. Oder erst im nächsten. Das kann niemand wissen.
© Mirjam Sarrazin