Schutz

Vogelnest von oben. Mit vier bläulichen Eiern

Vier Eier also. Gefleckte Amseleier. Und hätte er vorher gewusst, was passiert, er hätte es nicht anders gemacht. Kein bisschen anders. Hinterher ist man immer schlauer. Ist man immer klüger. Weiß man es besser. Sowas hat er auch kurz gedacht. Aber hier geht es ja nicht um schlauer, klüger und besser.

Er hätte es ganz genauso gemacht. Ganz genauso.

Morgens hat er sie gefunden. Als er los wollte zum Einkaufen. Morgens, noch bevor alle anderen einkaufen. Er hat Zeit gehabt, muss nicht mehr pünktlich auf Arbeit sein. Er kann morgens einkaufen. Und hat die Amsel erschreckt, als er so dicht vorbei gegangen ist. Mit einem Rascheln ist sie aus dem mickrigen Lebensbaum hinaus gestoben, der auf wunderliche Weise an dieser unwirtlichen Ecke zwischen Häuserwänden überlebt. Hoch über ihn in die Eiche geflogen. Hat ihn neugierig gemacht.
Geschaut hat er erst auf dem Rückweg. Mit dem Beutel in der Hand hat er die Äste vorsichtig zur Seite geschoben. Da hat er das Nest entdeckt. Vier kleine Eier. Gefreut hat er sich. „Sowas Schönes.“ Das hat er gedacht und sich über sich selbst gewundert. Die Beine sind ihm wackelig geworden. Spontan hat er mit dem Kopf geschüttelt. „Sowas Sonderbares.“ Das hat er auch gedacht. Dass ihn dieses Vogelnest berührt hat. Er ist auf Abstand gegangen und hat Ausschau nach der Amsel gehalten. Hat sie nicht entdecken können.

Ist nach Hause gegangen mit seinem Einkauf. Vogeleier hat er schon lange keine mehr gesehen. Das hat ihn beschäftigt, als er den Einkauf weggeräumt hat. Sich die Zeitung genommen, auf dem Balkon gefrühstückt hat. Die Eier sind ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen, und als er gedankenverloren den Zucker anstelle der Milch zurück in den Kühlschrank gestellt hat, da hat er sich die Sandalen wieder angezogen, und ist zurück gegange. Die paar Meter. Da hat er ruhig nochmal schauen können. Den Kopf geschüttelt hat er trotzdem.

Die Amsel ist wieder hinaus gestoben, hoch geflogen in die Eiche. „Es tut mir leid“, hat er gedacht und kurz war er unsicher, ob er es laut ausgesprochen hat. „Sowas Sonderbares.“ Das hat er auch wieder gedacht. Vier Vogeleier. Alle wohlbehalten. „Direkt auf Augenhöhe.“ Das hat er gedacht. Auf menschlicher Augenhöhe und auf optimaler Katzenjagdhöhe.

Wieder ist er auf Abstand gegangen. Hat aus dem Schatten der Hauswand rüber geschaut. Hätte gerne die Amsel gesehen, wie sie zurückfliegt. Sie ist nicht zurückgeflogen. Ist aus der Eiche empor in die andere Richtung geflogen.

Nun haben sie dort alleine gelegen, die Eier. Das ist ihm durch den Kopf gegangen. Schutzlos. Das Wort hat er schon lange nicht mehr im Kopf gehabt. Und seine Beine sind wackelig geworden. Er hat den Kopf geschüttelt, ohne es zu merken. Hat erneut nachgeschaut. „Sicherheitshalber“, hat er zu sich selbst gesagt. Ins Nest gespäht. Vier Eier.

Und auf dem Rückweg, die paar Meter, da hat er darüber nachgedacht, wie er sie schützen könnte. „Wenn sie geschlüpft sind“, hat er gedacht: „Dann holen die Katzen sie. Katzensnack.“

Da hat er seine Pflanzen gegossen. Tomaten auf dem Balkon. Acht Stück, immer zwei in einem Kübel. Die gießt er abends. An diesem Tag ausnahmsweise schon morgens, um auf andere Gedanken zu kommen. Und dann ist ihm eingefallen, dass er beim Nachbarn diesen Zaunrest gesehen hat. Beim Sperrmüll, neben Gerümpel und vollgestopften Plastiktüten.
Da hat er sich die Sandalen wieder angezogen. Den Kopf geschüttelt hat er über sich. „Sowas Sonderbares.“ Das hat er gedacht. „Mein dritter Ausflug heute“, hat er ausgesprochen.

Er hat Glück gehabt. Der Sperrmüll ist noch dagewesen. Auch der aufgerollte, grüne Drahtzaun. „Das wird gehen. Das wird gehen.“ Das hat er gedacht. Und noch ein paarmal gedacht, während er den Zaun in die Wohnung getragen hat. „Das wird gehen. Das wird gehen.“ In Endlosschleife, um im Kopf keinen Platz zu lassen für den anderen Gedanken. Dass das sowas Schönes gewesen ist, was er da macht. Und dann hat er es doch gedacht. „Sowas Schönes“, hat er gedacht. Ausversehen. Und da sind ihm die Beine wieder wackelig geworden, und im Kopf hat der Nebel sich zugezogen. Den hat er schon gekannt. Der hat ihn lange begleitet. Bis er besser aufgepasst hat. Auf seine Gedanken. Mehr gesteuert. Er hat das in den Griff bekommen. Die Gedanken gesteuert. Damit die Gedanken nichts berühren ihn ihm. Das wäre sonst nicht gegangen.
„Sowas Schönes.“ Jetzt hat er den Gedanken nicht mehr vertreiben können. Den Gedanken und das Freuen. Er hat den Zaun auf den Tisch gelegt, das Schränkchen geöffnet, das lange geschlossen geblieben ist. Jetzt war es offen. Alles ist noch dagewesen. Ordentlich sortiert. Sofort hat er die Zange gefunden. Mit geschlossenen Augen würde er das passende Werkzeug finden. Auch nach all der Zeit. Ein Ziehen im Bauch hat er gehabt. „Tief atmen“, das hat er zu sich gesagt. „Und Tabletten.“ Das auch.

Im Badezimmer hat er eine Tablette genommen, sie mit kaltem Wasser heruntergespült. Tief eingeatmet. Wieder aus.

„Na, dann wollen wir mal.“

Er hat losgelegt. Die Hände haben das wie von selbst gemacht, haben die Abläufe gespeichert gehabt. Das Klicken und Biegen und Schneiden. „Sowas Schönes“, hat er gedacht. Und „So wird das gehen“, hat er zum Zaun gesagt und ist in die Sandalen geschlüpft. Schon wieder, und er hat nicht registriert, dass er schon den dritten Ausflug gemacht hat an diesem Tag, weil er damit beschäftigt war, das Werkzeug in seine Arbeitshose zu stecken. Die hat fein säuberlich im Schrank gehangen. „Das wird gehen“, hat er zu ihr gesagt. Und es ist wunderbar gegangen. Reingeschlüpft. Erst in die Hose, dann in die Sandalen. Und das Werkzeug verstauen.

Die Amsel ist aus dem Geäst geflogen, hoch in die Eiche. „Wir kennen uns ja schon.“ Das hat er gedacht, aber doch so laut, als hätte er es gesagt.

Er hat sich an die Arbeit gemacht. Präzise hat er den Zaun zwischen den Ästen durchgearbeitet, angepasst, ihn unten am Stamm entlanggeführt. In gutem Abstand zum Nest.

„Das wird schon gehen“, hat er gedacht und hat es ganz bewusst gedacht, weil er gewusst hat, dass die Amselmama sitzt und ihn beobachtet hat und in Sorge gewesen ist. Gewissenhaft, zügig. Bis er zufrieden war. Auf Abstand gegangen ist, geschaut hat. Von außen ist sein Konstrukt nicht sichtbar gewesen. Niemand würde aufmerksam werden und das Nest in Gefahr bringen. Keine Frechdachse, die die Eier herausnehmen würden. Und die Katzen würde es abhalten. „Das soll ja kein Spaziergang sein, das Jagen. Kein schnell ergatterter Snack.“ Das hat er gedacht und das Werkzeug in die Schlaufen gesteckt.

Müde ist er gewesen. Und zufrieden. Das ist ihm durch Kopf gegangen, als er auf dem Balkon einen Kaffee getrunken hat. Das Werkzeug verstaut hat, seine Arbeitshose über den zweiten Gartenstuhl neben sich gehängt hat. Zum Auslüften. Sowas Sonderbares. Da ist nun also wieder gehangen. Über diesem leeren Balkonmöbel.

„Ob ich nochmal nachsehe?“, hat er sich gefragt. Und den Kopf geschüttelt. „Morgen“, hat er gedacht. „So wird das gehen.“ Auch das hat er gedacht. Und dass er ein bisschen langsam machen muss.

So ist es die nächsten Tage gegangen. Morgens hat er auf seiner Runde beim Nest vorbeigeschaut. Alles unverändert. „So geht das. Genauso geht das.“ Und wenn er das gedacht hat, hat er Freude gespürt. Das Ziehen im Bauch ist wieder vehementer geworden. Er hat wieder öfter Tabletten genommen. Das schon. Aber da ist auch die Freude gewesen. Das „Sowas Schönes“ Denken. Und als er dem Arzt einen Besuch abgestattet hat, um sicherzugehen, da hat der gesagt, was er sich schon gedacht hat. „Aufregung kann die Beschwerden verstärken“, hat der Arzt gesagt und dabei nicht besorgt gewirkt. Im Gegenteil. Eine Erleichterung ist im Raum gewesen. Das hat er gedacht. Und vielleicht hat es auch der Arzt gedacht, als er ihm ein neues Rezept für die Medikamente aufgeschrieben hat: „Nehmen Sie die weiter nach Bedarf.“ Und dann hat der Arzt gelächelt und gesagt: „Das wird werden jetzt.“ Und immer noch gelächelt. Aufmunternd. Und dieses Mal hat es ihn aufgemuntert. Sowas Sonderbares. „Grüßen Sie Ihre Frau.“ Das hat der Arzt nicht gesagt. Das hat er lange nicht gesagt.

Es ist viele Tage gegangen. Vier Vögelchen sind geschlüpft. Anschließend ist er nicht mehr nahe heran gegangen. Hat keine Angst auslösen wollen. Hat mit Abstand beobachtet. Wie die Vögelchen versorgt worden sind. Hat dort im Schatten der Hauswand gestanden. Dreimal ist er angesprochen worden. Er hat sich unterhalten. Zwei Leute, die ihn vom Einkaufen gekannt haben. Aus der Nachbarschaft. Sie haben nicht über die Vögel geredet. Sie haben über das Wetter und die steigenden Preise geredet, während er an das Nest gedacht hat, und daran, dass sein Kopf voll gewesen ist mit Nestgedanken, die er gerne ausgesprochen hätte. Aber er hat sie zurückgehalten, hat die Neugier der Leute nicht wecken wollen. Niemanden auf dumme Ideen bringen. Die Vögelchen schützen.

Bei der Nachbarin aus dem Haus gegenüber hat er sich überwunden. Hat ihr vom Zaun erzählt. Vom Bau. Sie hat abgewunken, hat es längst gewusst. Hat ihn beobachtet. Ist auch gucken gegangen. Hat die vier Eier entdeckt. Hat Anerkennung für sein Werk geäußert. Gelächelt, und das ist gut gegangen mit dem Gespräch.

Und dann kommt der Tag, an dem das Nest geplündert ist. Zunächst bemerkt er es nicht. Er steht im Schatten, schaut, entdeckt die Amsel nicht, entdeckt keine Bewegung im Geäst. Entdeckt Unruhe in sich. Geht nahe heran. Seine Konstruktion sitzt sicher im Baum, das Nest ist zerpflückt, hängt schief unter dem Ast, auf dem es erbaut worden ist. Keine Vögelchen. Seine Augen suchen vergeblich den Boden ab, wie von selbst, während er in sich den Nebel aufsteigen sieht

Da steht er und da geht gar nichts mehr in ihm. Da sind Gedanken, die prallen an das Ziehen im Bauch und prallen an eine Wand, die in ihm ist. Die in ihm gewachsen ist. Und das Leben teilt in davor und danach. Und „Grüßen Sie ihre Frau“, dieser Satz ist hinter der Wand. Und das Werkzeug, das er aus dem Schränkchen geholt hat, das war hinter der Wand. Und wie die Türen vom Schränkchen hat er die Wand geöffnet, nach all der Zeit, weil er das Nest und die Eier entdeckt und das Werkzeug gebraucht hat. Und nun ist alles durcheinander. Die Wand ist offen und doch gibt es keine Bewegung.

Da steht plötzlich die Nachbarin neben ihm. Legt ihm die Hand auf die Schulter. Er spürt das, nachdem die Hand dort schon eine Weile gelegen hat. Er hört die Nachbarin seufzen. „Es tut mir leid“, sagt die Nachbarin leise.

„Wie soll das denn gehen“, sagt er, so leise, dass er denkt, er habe es nur gedacht.

„Weinen Sie mal“, sagt die Nachbarin, und sie sagt das mit einer Sanftheit, und da wendet er sein Gesicht und schaut sie an. Direkt in ihre Augen. Und doch wieder weg. „Sowas Sonderbares.“ Das denkt er. Weinen. Das ist lange her. Daran erinnert er sich nicht.

„Sie haben ja alles richtig gemacht.“ Das sagt die Nachbarin auch, und da schaut er ihr nochmal in die Augen. „Sowas Schönes.“ Das denkt er und gleichzeitig denkt er verwundert, was der Kopf alles gleichzeitig denken kann. Und fühlen. Das denkt er auch. In dieser Parallelität.

„Ja?“, fragt er und es ist ihm sehr ernst. Es ist, als wäre nichts wichtiger für ihn als eine Antwort auf diese Frage.

„Oh ja“, betont die Nachbarin und nickt überzeugt und zeigt auf den Lebensbaum: „Genauso gut es ging. So einen Schutz zu bauen. Das war doch genau richtig. Es hat doch nichts damit zu tun, was nun passiert ist.“

„Vielleicht hätte ich mir die Mühe nicht machen sollen“, sagt er, und seine Stimme ist so mickrig, dass die Nachbarin sich vorbeugen muss, um ihn zu verstehen.

„Nein“, lacht sie, und er denkt, warum lacht sie, während der Moment traurig ist. „Sie haben den bestmöglichen Schutz geboten, den Sie bieten konnten. Unglücke passieren. Das können wir doch nicht beeinflussen.“

Er nickt.

Und sie sagt: „Weinen Sie mal ein bisschen. Sie brauchen ja auch Schutz. Für sich. Für die Unglücke, die passieren. Wenn Sie weinen können, dann haben Sie immer das richtige Werkzeug parat. Damit lässt sich alles Mögliche reparieren mit so einem erfahrenen Weinen.“

Er nickt und er denkt: „Sowas Sonderbares.“

Und sie sagt: „Sie sind doch Handwerker. Sie wissen doch was harte Arbeit ist. So ein Reparieren. Respektvolles, langwieriges, anspruchsvolles Reparieren.“

Er nickt. Und sagt: „Es geht jetzt wieder.“ Und er weiß, dass das nur so gesagt ist. Hinterher ist man immer schlauer. Ist man immer klüger. Weiß man es besser. Das denkt er. Dass er das Nest einfach sich selbst hätte überlassen sollen. Sich nicht einlassen sollen. Das habe er nun davon. Das denkt er.

Er muss nach Hause. Muss Tabletten nehmen. Muss sich hinsetzen.

Und als er zu Hause im Sessel kauert, und ihm die Worte der Nachbarin nicht aus dem Kopf gehen, da denkt er dieses Wort. Das hat er lange nicht gedacht. Das war in die Wand eingemauert. „Weggestorben.“ Das denkt er. Sie ist ihm weggestorben. Er hat nichts machen können. Seine Hände haben nichts bewerkstelligen können. Seine Handwerkerhände. Nichts erreichen. Nichts verhindern. Weggestorben. Wie die Vögelchen. Und da setzt er sich auf im Sessel. Plötzlich versteht er, was die Worte der Nachbarin bedeuten. Sie könnte recht haben. Er könnte alles richtig gemacht haben. Hat seine Frau begleitet, hat sie umsorgt, hat sie beschützt. Hat mir ihr geweint. Zusammen haben sie geweint. Und er schaut auf seine Hände. Unglücke passieren. Und er steht auf und öffnet die obere Schublade im Schränkchen mit dem Werkzeug. Die geschlossen geblieben ist. Alles ist da. Fein säuberlich hat er sie alle sortiert, die kleinen Erinnerungen. Und die Schublade dann geschlossen. Geschlossen gehalten. Jetzt steht sie offen. Und sie bleibt offen. Als er erst in seine Arbeitshose, dann in die Sandalen schlüpft, zurück zum Lebensbaum geht, mit dem Abbau des Zauns beginnt. Fachmännisch, gewissenhaft. Und seiner Frau währenddessen von den Vögelchen erzählt. Ihr seine Konstruktion erklärt. Mit wackeligen Beinen. Und „Sowas Sonderbares“ denkt. Das hat er irgendwie vergessen, dass er mit ihr reden kann. Und mit ihr weinen. Sowas Schönes.

© Mirjam Sarrazin

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