Durchgänge

Durchgang zwischen zwei hell gestrichenen Hauswänden. Am Ende Blick auf ein Stück Rasen, Mülltonnen und eine Garage.

Mein Hobby sind Durchgänge. Durch Straßen laufen, Durchgänge finden und durch sie hindurch gehen. Ich kenne keinen gebräuchlichen Namen für diese kleinen Lücken zwischen Hauswänden, und da mein Fokus auf dem Durchgehen liegt, nenne ich sie Durchgänge.

Meist gibt es sie in größeren Städten, meist in Stadtteilen mit alten Häusern, und manche Städte sind wahre Fundgruben für Durchgänge.

Ich trete in den Durchgang ein, laufe durch ihn hindurch, zittrig gespannt ob des Durchgehens und ebenso neugierig auf den Ort, zu dem mich der Durchgang führt. Ein kleiner Innenhof mit winzigem Rasenanteil. Eine Wäschespinne, ein Fahrradunterstand ohne Fahrräder und eine Person, die fegt.  

„Hallo“, sage ich und beobachte den sich bewegenden Besen. „Ich habe mich hier wohl verlaufen.“ Das ist so ein Satz, den nutze ich eher als eine Art Ausrede, denn manche Menschen verstehen nicht, warum ich in ihren Hinterhöfen auftauche.

Die fegende Person grüßt mich, fegt weiter, unbeeindruckt, und ich laufe an ihr vorbei, schaue nach einem weiterführenden Durchgang. Ich finde keinen, lediglich das offizielle Tor zum Hof, ein Eingang. Für mich ein Ausgang. Ich drücke die Eisenklinke, die Holztür springt auf. Ich trete auf die Straße, schließe die Tür, laufe weiter. Eine ganze Weile, bis ich einen neuen Durchgang finde. Trete ein, gehe hindurch, berühre mit der rechten Hand die fleckige Fassade, rieche Nässe, trete auf Müll und stehe in einem Garagenhof, der leer ist. Bis auf das rote Dreirad. Und einen weiteren Durchgang zwischen den Garagenhäuschen aus Beton.

Wieder trete ich ein und auf Müll. Neben Löwenzahn, der auf Sonne wartet, und daneben ein kaputter Sneaker. Der Durchgang ist ein längerer und endet in einem weiteren Garagenhof. Menschenleer, mit einer Sitzgruppe vor den Balkonen der anschließenden Häuserreihe. Balkone mit Blumenkästen, die noch kahl sind, und als Kontrast ein bunter Hängesessel irgendwo in den höheren Stockwerken.

Wie erwartet entdecke ich auch hier einen Durchgang, etwas versetzt nach rechts. Ein enger, einer zum beinahe hindurch quetschen. Mit einem Regenrohr, an dessen Ende sich eine tiefe Kuhle gebildet hat. Ich schlüpfe aus dem Durchgang hinaus, stehe auf einer Straße mit Kopfsteinpflaster und Kreidemalereien auf Gullideckeln. In mir hüpft etwas. „Nochmal“, denke ich und frage mich, ob es das Durchgekommen sein, das angespannte Gespannt sein oder das Geschafft haben sind, die mich jedes Mal aufs Neue beflügeln.

Ich laufe durch Nebenstraßen zurück zu meinem Ausgangspunkt. Zu dem Durchgang in den Hinterhof mit der fegenden Person, die nun verschwunden ist. Ich stelle mir vor, wie sie mit ihrem Besen abgehoben ist und schaue in den Himmel. Blau zwischen grauen Wolken.

Ich nehme die beiden Durchgänge, erst den durch die Garagenhäuschen, alles unverändert, dann den Engen mit dem Rohr. Wieder stehe ich in der Seitenstraße und wieder hüpft etwas in mir und beinahe auch ich. „Nochmal“, denke ich, aber mit Ambivalenz und entscheide mich, weiter zu schauen. Einen neuen Durchgang zu suchen. Vielleicht auf einen versteckten Spielplatz, in einen Park, auf einen Hinterhof mit Hund, einen ohne Müll oder auf einen Werkstatthof, auf dem unzählige Palletten liegen.

Ich stelle mir mich von oben vor, zoome ganz weit heraus, sehe diese Person, die durch Straßen, durch diese Gänge läuft, verschluckt wird von ihnen, ausgespuckt an neuen Orten, verschwindet aus dem Straßensystem, aus dem Stadtplan, zoome noch weiter heraus, und dann kommt mir regelmäßig dieser Weltraumbegriff „Overview-Effekt“ in den Kopf, und mir wird warm, und alles ist irgendwie plötzlich eins.

Man kann nicht feststecken in diesen Durchgängen. Es gibt welche, die sind insofern Sackgassen, weil es keine weiteren Durchgänge oder Ausgänge gibt. Dann muss ich umdrehen und den gleichen Durchgang zurücknehmen. Ich komme also raus, wo ich angefangen habe. So wirkt es. So sieht es aus. Ich komme raus, wo ich angefangen habe, und doch habe ich mich ja verändert. In diesen wenigen Minuten, und vielleicht waren es nur zweikommadrei Minuten, die ich für Durchgang hin, am Ende einmal umschauen und feststellen, es gibt keinen weiteren Durchgang, also Durchgang wieder zurück, gebraucht habe, und doch haben diese etwas verändert. Da befinden wir uns nun gedanklich in der Welt der kleinsten Teilchen, dem nicht mehr Messbaren, oder aber in diesen zweikommadrei Minuten hat tatsächlich gut hörbar eine Person laut etwas über die Straße gerufen, das durch den Durchgang gehallt hat, oder eine Katze ist vorbei gehuscht, oder es hat angefangen zu regnen. Oder halt plötzlich doch Sonne. Oder ich habe Seitenstechen bekommen, oder bin in eine Pfütze getreten. Aber auch ohne Offensichtliches hat sich in diesen zweikommadrei Minuten allerlei verändert, im Außen und Innen. Ohne dem Worte geben zu können, oder es zu wollen. Einfach so. Als Fakt.

Und dieses Wissen feiere ich sehr. Für mich ist es ein Schatz, den ich mit mir trage, dass dieser Prozess des Veränderns immer da ist, immer an. Nie Stillstand. Immer Bewegung. Nicht zum Guten oder zum Schlechten. Ganz ohne Wertung. Einfach verändert. Und deshalb sind mir diese Sackgassendurchgänge manchmal sogar die liebsten. Weil sie mich daran erinnern.

Ich zelebriere das. Ich entscheide mich, den Rückweg anders zu gestalten. Ich gehe ihn beispielsweise rückwärts. Oder ich hüpfe ihn auf einem Bein. Oder ich singe und hüpfe und klatsche in die Hände. Offensichtlicher kann es eigentlich nicht werden, dass ein Weg niemals derselbe ist. Ich kann auch auf dem Rückweg Musik hören, und plötzlich verändert sich meine Wahrnehmung aufgrund des Einflusses der Musik auf mich, als wäre es ein vollkommen unbekannter Durchgang. Ich kann auch in den Himmel schauen. Oder stur auf den Boden.

An manchen Tagen suche ich mir gezielt ausschließlich solche Sackgassendurchgänge und gestalte sie. Nach einer Weile Sackengassendurchgänge nutzen, weiß ich wieder, dass es in Wahrheit keine Sackgassen gibt. Es gibt kein Feststecken. Es ist die Definition von Ziel, und diese alte Sache mit dem Weg. Das ist keine neue Weisheit, die ich da in meinen Durchgängen finde, und doch gibt es Phasen, da empfinde ich es als Vorteil, Routinen zu haben, um mir in Erinnerung zu rufen, dass es Feststecken realistisch betrachtet nicht gibt.

© Mirjam Sarrazin

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