Vertrauen

Blick in einen hohlen Baumstamm, aus dessen Mitte zwei schmale Stämmlinge wachsen

An dem Tag, an dem es stürmte und regnete, lernte ich die Weide kennen. Wir hatten bereits eine Weile gemeinsam an der Bushaltestelle gestanden und gewartet, als sie mich ansprach. Sie äußerte Interesse an meiner Skihose und fragte, ob ich diese immer trage. „Ja“, sagte ich. „Je nach Bedarf.“

Die Weide musterte mich und nickte dann. „Es ist gut, eine schützende Hülle zu haben“, sagte sie und äußerte Bedenken, ob noch ein Bus kommen würde. So kamen wir ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass für eine lange Zeit tatsächlich kein Bus kam, und wir plauderten über den Wetterumschwung, zu schnell fahrende Autos, gestiegene Lebensmittelpreise, und worüber man sonst plaudert an einer zugigen, nassen Bushaltestelle.

Schließlich lud mich die Weide auf einen warmen Kakao zum nahen Bäcker ein. „Hier scheint ja heute nichts weiter zu passieren“, sagte sie und lächelte mich auffordernd an. Ich nickte. Die Aussicht auf ein heißes Getränk gefiel mir, und im Kopf schmiss ich meine Tagesplanung um.

Nebeneinander gingen wir die wenigen Meter zum Bäcker, und erst jetzt merkte ich, wie durchgefroren ich war. Der Wind kam uns entgegen und peitschte mir ins Gesicht. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass auch die Weide das Gesicht nach unten hielt und ihre Mütze tiefer ins Gesicht zog. Einer ihrer gewaltigen Äste barst, und der größere Teil schmetterte zu Boden. Ich blieb erschrocken stehen, eilte dann weiter, als ich merkte, dass die Weide vorgelaufen war. Sie schien auch ihren Redefluss nicht unterbrochen zu haben, als ich stehen geblieben war. „Oder?“, fragte sie nun, als ich sie eingeholt hatte.

„Entschuldigung“, sagte ich und warf einen schnellen Blick zurück auf diesen großen belaubten Ast, der quer auf dem Bürgersteig lag. „Soll ich das nochmal wiederholen?“, fragte die Weide mich mit hoffnungsvollen Augen, und ich nickte, obwohl sich in mir etwas schüttelte. „Ja“, wollte ich sagen. Und „Ich war abgelenkt durch Ihren Ast.“ Ich kam nicht dazu, da wir nun den Bäcker erreicht hatten. Die Weide ging voran und stieß die Glastür auf, die bimmelte. Sie erklomm die drei Treppenstufen, und in dem Moment brach ein großes Stück Holz aus ihrem Stamm. In letzter Sekunde sprang ich von der untersten Stufe auf den Gehweg, um nicht getroffen zu werden. Direkt neben mir blieb das Stück Holz am Fuß der Treppe liegen, und ich fühlte mich wie erschlagen.

Plötzlich empfand ich den Drang, kehrt zu machen und davon zu gehen, einfach in irgendeine Richtung, einfach weg. Weg von der Weide. Weg von dieser Bekanntschaft.

„Hier ist es schön warm“, sagte die Weide und hielt die Tür auf, und erst jetzt, als ich verunsichert die drei Stufen hochstieg, erkannte ich das klaffende Loch in ihrem Stamm. Der Stamm war gigantisch, und das Loch war nicht frisch, voller faseriger, morscher Strukturen. Der Stamm war beinahe gänzlich ausgehöhlt, und auf der anderen Seite hatte sich auch bereits ein Loch in der dicken Rinde gebildet, so dass ich durch die Weide hindurchschauen konnte. Ich fühlte eine Enge in der Brust und schlüpfte durch die offen gehaltene Bäckereitür.

„Nicht wahr? Hier ist es wunderbar warm“, sagte die Weide, und ihre Augen glänzten. Ich nickte, und ich wollte etwas sagen und brachte nichts heraus. Die Weide plauderte stattdessen mit der Dame hinter der Theke, bestellte zwei warme Kakao und suchte uns dann einen kleinen Tisch in einer Nische. „Hier haben wir es schön“, sagte sie, zog ihren durchnässten Mantel und die Mütze aus, setzte sich und schaute mich erwartungsvoll an. Ich verharrte, fühlte mich unruhig, sprachlos.

„Na, jetzt bin ich gespannt“, sagte die Weide, grinste mich an, und mein Zögern schien sie nicht zu irritieren. Ich blieb, wie ich war, und die Weide lachte. „Ihre Skihose meine ich. Ziehen sie die nun aus?“

„Ja“, sagte ich zögernd. „Ich ziehe sie lieber aus. Sie ist ganz nass.“ Und ich war froh über die routinierten Bewegungsabläufe. Ich hing die Hose über die Lehne eines Stuhls nahe der Heizung und nahm der Weide gegenüber Platz am Tisch. Sie rührte in ihrem Kakao. Mit dem Löffel probierte sie ihn. Sie machte ein langgezogenes und sehr freudiges „Ahhhh“ und ich konnte ihre Entspannung spüren.

Auch ich nahm den langen Löffel, rührte in meinem Kakao, kostete, und während die warme Süße meinen Mund einnahm, starrte ich die Weide an, die plötzlich den Löffel in den Kakao fallen ließ und ein großes Stück Rinde auffing, das sich vom Stamm gelöst hatte. Sie legte es auf den Tisch ganz an den Rand, betrachtete es kurz und schaute dann wieder auf. Unsere Blicke trafen sich, und für einen winzigen Moment nahm ich in ihren Augen Trauer wahr. „Er ist gut, der Kakao, nicht wahr?“, fragte sie und lächelte mit dieser Wärme. Mir schossen Tränen in die Augen, und ich versuchte zu schlucken. Es klappte mit dem Kakao. Der ganze Rest blieb da. Also weinte ich.

„So ist es“, sagte die Weide und nickte mir zu. Sie löffelte Kakao, und Tränen liefen mir über die kalten Wangen. Schließlich setzte die Weide die Tasse an den Mund und trank, und ihr Gesicht rötete sich von der Wärme, und sie machte ein tiefes Wohlfühlgeräusch, und da hörte ich auf zu weinen und nahm meine Tasse und trank meinen Kakao in einem Zug leer.
„Wunderbar, nicht wahr?“, sagte die Weide, und mit diesem Bart aus Kakao lächelte sie mich an, und da musste ich lachen, und schon wieder kamen mir die Tränen. „Danke für diesen Kakao“, sagte ich und fühlte mich, als hätte ich seit einer sehr langen Zeit kein Wort gesprochen.

Für einen Moment nahm die Weide meine Hand in ihre. Warm. Knochig. Rau. Berührend. Wir schauten uns an. Ihre Augen in diesem Ton zwischen grün und blau und einem wilden grau. Wie der stürmende See, an dem sie stand. Da brach ein weiterer Ast aus ihrer Krone, und sie hielt meine Hand, als ich vor Schreck zusammenzuckte, und ich hielt ihre, und verstohlen schaute ich mich in diesem kleinen Bäckerladen um.

Der Ast war mit Wucht auf ein Nachbartischchen gefallen, während Leute direkt daneben Brötchen bezahlten und Small Talk machten. „Fallen Sie auseinander?“, setzte ich an, erschrocken, mit erstickter Stimme, und die Weide drückte meine Hand in ihrer. „Ja, das könnte passieren, aber noch nicht heute, denke ich.“ Und sie ließ meine Hand los, stand auf, ächzte fast unmerklich, wischte sich Laub aus den zerzausten Haaren und nahm ihren Mantel von der Stuhllehne an der Heizung. Sie streckte sich. „Na dann“, sagte sie, bereit zum Abschied, und einmal kurz sahen wir uns an, und da war Sonne in ihren Augen. „Wie schaffen Sie das?“, fragte ich, und gestikulierend definierte ich mit den Händen einen unklaren Raum um uns.

Die Weide hielt inne, deutete auf ihren hohlen Stamm. „Hier innen drin. Da braucht es sowas wie Vertrauen“, sagte sie, zog ihren Mantel über und verabschiedete sich mit einem schnellen „Auf Wiedersehen“. Als hätten wir nur kurz gemeinsam auf den Bus gewartet.

In der Nacht darauf schlief ich schlecht. Unruhig, verschwitzt, wirr träumend.

Morgens hatte der Sturm nachgelassen. Ich nahm das Fahrrad zum See. Unsicher und angespannt lief ich dort den Spazierweg entlang, atmete die feuchte Luft. In mir dieses Loch. Diese Abwesenheit von Resonanz. Fordernd. Eine übervolle Leere. Entengeräusche. Raschelnder Wind in den Sträuchern. Hinter der kleinen Anhöhe stand sie. Sie stand. Erleichterung in meiner Leere. Totholz um sie herum. Schritt für Schritt lief ich achtsam durch Gras und Geäst auf sie zu, sah zu ihr hoch, blieb vor ihr stehen, legte meine Hand auf die dicke Rinde. Warm. Knochig. Rau. Berührend. Beugte mich vor, schaute direkt hinein in ihren offenen Stamm, entdeckte zwei Stämmlinge in ihrem Innern, von unten kommend, verwurzelt. Ich verstand das nicht. Ich kannte mich nicht aus. Und schmeckte warmen Kakao.

(c) Mirjam Sarrazin

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