Vorgespult

Sonnenuntergang im Hintegrund, noch blauer Himmel, dunkle Baumreihe, im Vordergrund links eine hohe Birke

Mal wieder streiten wir uns, und mal wieder denke ich, ich wüsste alles besser, und verstehe in dem Moment, wo du gegangen bist, nicht einmal mehr, worum es überhaupt ging.

In den Tagen danach ist morgens Herbst und nachmittags Sommer, und in der Zeit dazwischen fühle ich mich verloren. Fünf Tage halte ich das aus. Dann gehe ich zu dir, sobald es dunkel ist.

„Ach, du“, sagst du und schließt die Wohnungstür, nachdem ich meine Schuhe im Treppenhaus ausgezogen und deinen Flur betreten habe. Ich sage nichts, gehe in die Küche, setze mich auf den blauen Stuhl. Gewohnheit. Auf dem Tisch steht deine Kaffeetasse mit Kaffeesatz. Rechnungen liegen herum, daneben dein aufgeklappter Laptop. „Ach, das“, sage ich und deute auf die Papiere. Ich suche Vertrautheit. Rechnungen und dein aufgeklappter Laptop. Das ist vertraut. Ebenso deine Reaktion, deine Zerstreutheit, mit der du in Schubladen kramst, von denen du eine nicht wieder ganz schließt, und genau dieser Spalt, der bleibt, setzt mir ein Geräusch ins Ohr, das schmerzt. Den Flaschenöffner hast du gefunden, holst Wein aus dem Kühlschrank, öffnest ihn, schaust zum Laptop: „Ja, Steuer.“

„Ich habe das erlebt, und ich erwarte, dass du mir glaubst“, sage ich und denke, vielleicht sage ich es nur, um das Geräusch in meinem Ohr zu übertönen, das der Spalt in der Schublade macht. Währenddessen beobachte ich das Weinglas, das du füllst. Für dich. Ich mag Weißwein nicht, das weißt du. Ich denke, du hättest auch den Roten öffnen können, den ich im Regal sehe. Den mag ich. Auch das weißt du. Stattdessen trinkst du deinen Weißen, und ich kann nicht einschätzen, ob du es aus Egoismus oder Zerstreutheit tust.

„Ja, ich weiß“, sagst du, nachdem du das Glas abgestellt und die Weinflasche zurück in den Kühlschrank gestellt hast.

„Ach“, sage ich.

Auf dem Rückweg zum Tisch greifst du die Flasche Rotwein aus dem Regal und öffnest sie, bevor du mir ein Glas hinstellst und einschenkst. Dann setzt du dich. Und schaust mich an. Mit meinem ausgestreckten Arm schiebe ich die Schublade zu, so dass der Spalt verschwindet. Anschließend trinke ich mein Glas Wein leer.

„Vielleicht nicht so viel heute?“, du starrst mich an, und ich sehe ein Reh vor dem Scheinwerfer auf der Straße stehen. Ich starre es an, kippe Wein nach, trinke, setze ab: „Ach, das meinst du?“, setze an, trinke aus.

„Ich mein ja nur“, sagst du, und du flüsterst fast.

Ich schlage mit der Faust auf den Tisch. Du erschrickst, und das beruhigt mich. Du sagst nichts. Ich lehne mich zurück, ziehe meine Beine zu mir auf den Stuhl.

„Du glaubst mir nicht“, wiederhole ich, und fühle mich ausgefranst. „Ich fühle mich wie ranzige Butter“, sage ich, und weine los, und am meisten macht mir zu schaffen, dass ich nicht weiß, wieviel Rolle der Wein dabei spielt.

„Ja, ich weiß“, sagst du, und ich kann es nicht glauben.

„Hast du das jetzt schon wieder gesagt?“, frage ich und greife nach meiner Flasche Wein.

„Lass doch jetzt“, sagst du, und wieder flüsterst du fast, und ziehst den Wein von mir weg.

„Ich kann es echt nicht glauben“, schreie ich dich an, und schnappe mir deinen Weißwein und kippe ihn in mein Glas.

„Ich weiß irgendwie immer nicht, ob du wütend oder traurig bist“, sagst du, und da muss ich lachen. Wieder schlage ich mit der Faust auf den Tisch, dieses Mal erschrickst du nicht, dieses Mal lache ich einfach: „Potzblitz!“, rufe ich laut durch deine Küche, die eben deine Küche ist, weil wir immer noch nicht zusammengezogen sind.

Du lässt deine Schultern sinken, sackst in dich zusammen, so als wäre alle Anspannung aus dir entwichen. Als wäre alles nebensächlich. Jetzt denkst du: „Ach, das Spiel kennen wir doch schon“, denke ich, und ich lache, und dabei laufen mir die Tränen über das Gesicht.

„Na, kennst du ja alles schon?“, starre ich dich herausfordernd an.

„Was jetzt?“, fragst du, und deine Stimme erinnert mich an geschmolzenes Gummi.

„Diesen crazy shit hier“, sage ich und starre weiter, und rucke ein paarmal den Kopf zu dir hin.

Du hängst auf deinem Stuhl wie ein Pullover voll Katzenurin, und ich kriege mich wieder ein, setze mich gerade hin, stelle das Weinglas ab: „Ok, sorry.“

„Ist ok“, flüsterst du und schaust dir irgendwas auf dem Boden an.

„Ist es nicht“, sage ich, und alles riecht nach Katzenklo.

„Was willst du?“, fragst du und schaust mir in die Augen, so dass ich Herzrasen bekomme.

„Sex“, sage ich, und du seufzt, und ich kriege mich wieder an: „Oh man, ok, sorry. War nicht so gemeint. Sorry, echt. Es ist mal wieder soweit.“ Du zuckst die Schultern, aber du schaust nicht weg. Das reicht mir als Signal.

„Ich kann das nicht mehr. Fühle mich meilenweit entfremdet von allem und jenem. Glaubt eh keiner. Versteht eh keiner.“

„Woran würdest du merken, dass ich dir glaube? Und dass ich eine Ahnung davon habe, wie es ist für dich? Weil ich dich ja spüre, weil da ja was ankommt bei mir. Mitschwingt“, sagst du, und du sagst das so unverwüstlich ehrlich, und ich denke, wir sollten das mal aufschreiben, wie wir reden. Wir reden immer das gleiche.

Also sage ich: „Ja, meine Güte. Verstanden. Es ist meins. Es ist nicht der Punkt, dass du es nicht glaubst, sondern dass diese Glaubenssätze in mir sind, dass mir eh keiner glaubt, und weil sie sowieso stärker und lauter sind als alles im Außen. Und diese Verzweiflung.“

„Ja“, sagst du.

„Ja,“ sage ich.

„Lass jetzt Sex haben“, sage ich, und dann haben wir Sex, oder das, was du so nennst, und wofür ich Sprache suche, die es mir greifbar macht, und bisher keine gefunden habe. Zwischenzeitlich funktioniert es, und ich tauche ein. Stelle mir vor, wie ich in der Mitte des Sees schwimme, in die Sonne rein, ganz früh morgens, dann, wenn sie noch ganz tief steht und blendet. Ich schließe die Augen, die Helligkeit macht, dass ich die Orientierung verliere. Sobald ich die Augen öffne, realisere ich das, wende, schwimme wieder Richtung Sonne, schließe die Augen, bis das gleißende Licht mich aufnimmt, aufsaugt.

Bis ich plötzlich keine Lust mehr habe, alles abgestellt wird in mir. Du mich nervst, du mir zu viel bist, ich aufstehe, mich entferne. „Reicht“, sage ich, und schlüpfe so wie ich bin in meine knittrige Jeans. Lasse dich dort, so wie du bist. Wütend bist du, das sehe ich an deinem starren Rücken, den du mir entgegen streckst in dieser gekrümmter Haltung auf deinem Bett liegend.

„Ich geh jetzt“, sage ich, und dann bin ich schon raus. Schon das Treppenhaus runter. Schon draußen vor der Haustür. Packe mir Musik auf die Ohren, denke an die Sonne über dem See, und dann springt die Playlist auf diesen Song, der mir suggeriert, ich könnte das Außen zurückspulen, es stoppen, es vorspulen.

Ich nehme mir die Fernbedienung und stoppe die Person vor der Bar, die sich gerade eine Kippe anzündet. Freeze. Stoppe die nachtleere Straßenbahn, die um die Ecke fährt. Stoppe die Katze, die aus der Ausfahrt herausläuft. Alles friert ein, alles wird still, und dann spule ich die Katze vor. Sie rast aus der Ausfahrt über die Straße, versteckt sich unter dem parkenden Lieferwagen. Ich schalte die Person vor der Bar wieder ein, sie inhaliert das Nikotin, lässt die Schultern erleichtert sinkend, zieht das Handy hervor. Stopp. Ich friere sie ein, spule sie vor. Vorgespult grüßt sie eine Person, die auch aus der Bar kommt. Sie streiten. Ich stoppe beide. Auch vorgespult nervt mich das Gezeter.

Ich laufe durch die Nacht, am Kanal stoppe ich zwei Enten, beobachte eine Person, die wankend über den Bürgersteig läuft, stolpert, stürzt. Stop it. Rewind drücke ich. Niemand soll hier heute Nacht stolpern. Wankend verschwindet die Person wieder über den Bürgersteig, rückwärts, in einem Hauseingang, aus dem sie vorhin rausgekommen sein muss. „Zurückgespult“, denke ich, und spule die Bäume am Kanal zurück. Sie schrumpfen, Personen, die junge Bäumchen pflanzen, abladen von einem LKW, abfahren, rückwärts. Spule die Bürogebäude zurück, die mich umgeben, das Stadtbild verändert sich, die Straßen, Bauarbeiten, spule den Asphalt zurück, klicke wild um mich herum, dann den Mond, der verschwindet und dann dieser Sonnenuntergang, den ich nicht wahrgenommen habe am Abend. Spule die Sonne zurück. Der Untergang läuft rückwärts, als würde die Sonne aufgehen und verschwindet schließlich, wo sie sonst erscheint. Dunkel, dann wieder Sonne, wieder Nacht, Mond, spule und spule, immer schneller, dunkel, hell, dunkel, hell, alles dreht sich, und noch während mir die Idee kommt, ob es gehen könnte, ist es schon passiert.

Da ist er, der Urknall. Rasend schnell. Rückwärts. Und dann Stille. Nichts. Dunkelheit. Endlich absolute Ruhe. Schwindelig lasse ich mich fallen, irgendwo in mich hinein. Schließe die Augen. Atme. Spüre, wie ich atme. Spüre, wie ich bin. Eine lange Zeit ist da nicht mehr als das, in und um mich. Und dann denke ich an dich, ist da ein Vermissen. Diese Vertrautheit, all diese Verlässlichkeit.

Und dieser Gedanke. „Endlich kann ich es steuern“, denke ich, und ich verstehe es nicht, und steuere es trotzdem. Nehme mir die Fernbedienung und spule vor. Behutsam, langsam. Beobachte die Sonne, wie sie auf- und wieder untergeht, den Mond, unendliche Male Sonne und Mond, Sterne und Sturm. Spule schnell. Ziehe die Geschwindigkeit ins Unendliche. Nähere mich dem Jetzt, mit Herzrasen. Dass es alles noch da ist, das Auf- und wieder Untergehen, das ist doch nicht zu glauben. Das denke ich. Das gibt mir Halt. Der Wandel, der hält. Überspule den Sonnenuntergang, der gestern war, überspule den Mond, diese trostlose Nacht, spule in die Helligkeit, durch den Tag, bis in diesen Sonnenuntergang. Du und ich, wir sitzen am See, auf dem Steg. Es ist warm, das Wasser kalt, wir platschen mit den Füßen darin.

„Lass mal schwimmen“, sagst du.

„Lass mal reden“, sage ich, und sage dir, dass ich diese Ohnmacht nicht aushalte, die immer und immer wieder auf mich zurückfällt, wenn Leute mit meiner Geschichte nicht umgehen können. Immer dieses Schweigen. Dieser Erklärdruck. Dass es einsam macht, das nicht Verstehen.

„Ja, ich weiß“, sagst du, und deine Finger machen dieses kleine Geräusch auf dem Holz des Stegs.

„Ja, ich weiß“, sage ich, und meine damit, dass ich weiß, dass du das weißt, und jetzt in diesem Moment fühle ich es auch, und dann drücke ich Stop. Friere uns ein. Denn das hier, das muss ich ein bisschen festhalten. Es ist ja nicht das Wissen, das zählt. Es ist ja das Zulassen, das Einlassen, das Mitfühlen, das Verbundenheit macht. Dieses Spüren friere ich ein in mir, und drücke erst wieder play, wenn es mir im nächsten Moment von Verzweiflung wieder verloren geht.

© Mirjam Sarrazin

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