Da steht er nun. Allein. Im Nieselregen. Die anderen sind gegangen, wollten nach Hause. Ins Warme. Kaffee, Tee. Rückzug. Um ihn herum wird es voller. Der Regen verlangsamt den Prozess, hält ihn jedoch nicht auf. Familien, Gruppen, Paare, lachende Freund*innen, gute Laune Stimmen.
Ein paar Meter geht er, lässt sich ein Stück treiben. Schaut sich die Stände an, auf Abstand. Lustlos. „Und nun?“, denkt er, während der Luftballonverkäufer neben ihm Knoten entwirrt. „Nun stehe ich hier also alleine“, denkt er, und geht wieder ein paar Meter. Schritt für Schritt. Bratwurst- und Zuckerwattengeruch. Die Karussellbetreiber*innen fahren die Lautstärke hoch. Früher ist er gerne Autoscooter gefahren, hat sich die Lücken gesucht, um hindurch zu kurven. Wenn er gerammt wurde, hat er nicht reagiert, und das hat die anderen provoziert. Einmal ist ein Wagen so in ihn reingestoßen, dass er einige Tage Nackenprobleme hatte. Das weiß er noch gut. Das war in dem Jahr, in dem er die Schule geschmissen hat.
Schließlich Break Dancer und kurz dahinter das Riesenrad. Es dreht sich. Er schaut hinauf. „Schön“, denkt er. Noch ist es hell, bald wird es dunkel, und dann all die Lichter. Dieses Jahr Regenbogen. Er geht hoch zur Kasse. „Einmal“, sagt er, und nimmt den Chip. Noch ist es leer. Noch gibt es keine Schlange. Bald halten die Gondeln, steigen ein paar wenige Leute aus, darf er einsteigen. Hat eine Gondel für sich allein. „Dann halt Riesenrad“, denkt er, und setzt sich zurecht, wirft einen schnellen Blick zu den gigantischen Schrauben. „Dass ich aber auch immer schaue“, wundert er sich über die Gewohnheiten.
Das Rad setzt sich in Bewegung, er lässt seinen Blick schweifen, weit in die Ferne, der Regen hat jetzt aufgehört, weit hinten wird der Himmel klar, jetzt, kurz bevor es gleich dunkel wird. Als wäre es ein Wettrennen zwischen klarem Himmel und Dunkelheit. „Wer schafft es früher bis zu mir“, denkt er, und nun ist er am höchsten Punkt, die Gondel wankt im Wind. Das Riesenrad steht. Weit unten erkennt er, wie Leute zusteigen. „Herzlich Willkommen“, sagt er.
Er dreht nun seine Runden. Drei, danach ist er sicher, muss er aussteigen. Aber das Riesenrad fährt noch eine vierte, und sogar eine fünfte. Dann ist Schluss. Er soll aussteigen. Routiniert wird ihm das kleine Tor geöffnet. Er bleibt sitzen. Mit Worten wird er gebeten, auszusteigen. Er bleibt sitzen. Es ist, als wäre da nichts mehr in ihm. Keine Impulse, keine Vernetzungen. Keine Bewegungen. Er hört die Worte, er kennt die Zusammenhänge, es ist, als wäre in seinem Gehirn Eiszeit ohne Eis. Gefrorenes Nichts.
Mehrere Leute reden auf ihn ein. Vorrangig irritiert, weniger wütend. Verzögert, aber dann doch deutlich, nimmt er das wahr. „Kann ich noch sitzen bleiben?“, fragt er, und kramt in seiner Jackentasche nach dem Geldschein. Wieder Irritation. Kurzes Zögern. Lachen. Kumpelhaftes auf die Schulter klopfen.
Dann dreht er wieder seine Runden. Oben angekommen, steht er auf, stößt sich den Kopf, ruft in den Wind, lacht. Setzt sich wieder. Die Gondel schaukelt, leichter Schwindel fließt durch den Körper. Weiter geht’s, weiter runter, dann wieder hoch. „So ist es doch“, denkt er, und sagt es in den Wind, als er ganz oben ist: „So ist es doch. Immer in Kreisen. Alles wiederholt sich. Die eigenen Geschichten kommen immer wieder auf den Tisch. Alles auf die Bühne. Einmal durcharbeiten bitte.“
Er lächelt. „Und von Runde zu Runde wird es klarer“, denkt er, und nun hat er nicht mitbekommen, dass sich das Riesenrad aus seiner Verankerung gelöst hat, sich in Bewegung gesetzt hat. Aufwärts, weiter nach oben treibt es, während er seine Runden dreht. Immer leichter fühlt er sich, Runde um Runde. „Immer wieder alles einmal durcharbeiten“, sagt er in den Wind, ganz oben. Am höchsten Punkt, der jetzt weit über dem letzten höchsten Punkt liegt.
„Und jedes Mal ist es ein kleines bisschen anders. Ein kleines bisschen leichter. Ein kleines bisschen weiter“, erzählt er dem Wind, und nun hat er Tränen in den Augen, und vielleicht ist das der plötzlich beißende Wind, oder es sind die Gefühle. „Es fühlt sich an wie stecken bleiben, ständig die gleichen Sackengassen betreten. Und dann aber eben doch. Irgendwo innen macht es was. Jede Runde lohnt sich. Auch wenn man es nicht merkt.“ Auch das erzählt er dem Wind. Berührt fühlt er sich. Und ein wenig beschwipst. Auch beschwingt. „Es wird so leicht in mir“, denkt er, und schaut sich um. Schaut in die Weite, dann nach unten.
„Wir fliegen ja“, ruft er in den Wind. „Damit hatte ich nun nicht gerechnet“, ruft er, und lacht, und dann breitet er seine Arme aus. Schließt die Augen, hat dieses Bild von der schweren Tiefe, hinauf in die Leichtigkeit, und auf dem Weg, in all diesen Runden und Kreisen ständig die Begegnung mit sich selbst. In jeder Gondel ein Selbst, ein NochmaleineRunde.
„Wie schön es hier oben ist“, sagt er, als er sich umschaut, und die Welt ist nun aus weiter Ferne zu erkennen. Es ist friedlich, still, alles ist auf Abstand, Ruhe überall.
„Glück“, denkt er, und das Wort begleitet ihn noch ein paar Runden. Und „Glücksgefühle“, und dass er vorher nicht gewusst hat, dass die mit so viel Tiefe und vornehmlich Entspannung einhergehen, und nun ist es dunkel geworden. Das realisiert er erst, als die Gondel zum Stehen kommt direkt über dem Boden. Und dass er nicht darauf geachtet hat, ob der klare Himmel es vor der Dunkelheit geschafft hat. Erschöpft fühlt er sich. Und dankbar. Routiniert wird ihm das kleine Tor geöffnet. Er steigt aus, läuft über den Steckboden zum Ausgang.
„Morgen komme ich wieder“, denkt er.
© Mirjam Sarrazin