Der Clown

Marienkäfer krabbelt über einen Steinboden von rechts nach links

Fünf Tage später kommt der Zirkus in die Stadt, und da er pandemiebedingt sein Zelt nicht aufbauen darf, finden sich kreuz und quer verteilt auf Plätzen und in Parks Attraktionen. Mit Absperrbändern und Abstandsmarkierungen. Mit Maskenschildern und Hygieneregeln. Auch der Clown spricht in sein Megafon und bittet um Rücksicht und Abstand und Knutschen bitte erst zu Hause im eigenen Hausstand, und dann verteilt er rote Nasen und bittet die noch unsicher Zuschauendenden, diese über die Masken zu ziehen. So wie er das mache. „Dann haben wir Superschutz“, sagt er und schaltet den Alarm am Megafon kurz ein, dann wieder aus, stellt es zur Seite, greift zu Jonglierbällen und gibt eine Vorstellung. Lacht. Macht Witze. Zieht Requisiten aus einem alten Koffer, bittet um Aufmerksamkeit. Und ein Kind nach vorne zu sich. Mit Abstand. „Mit Abstand“, sagt er wieder in sein Megafon. Wiederholt es. So dass es auch die Spatzen und die Amseln in den Bäumen hören. Er zeichnet mit seinem Finger eine Linie für das Kind in den Parkboden, stellt daneben ein kleines Stoppschild wie es bei Spielzeugsets von Holzeisenbahnen vorkommt, misst einskommafünf Meter mit einem Maßband, lässt es zurück flitschen, tut sich weh, springt herum, misst erneut. Schaut sich den Abstand aus allen Richtungen an. Zieht dann eine zweite Linie, stellt auch dort ein winziges Stoppschild auf und stellt sich vorsichtig, auf Zehenspitzen hinter diese. Übertritt die Linie, stellt sich dahinter, übertritt sie erneut, hält sich nicht ans Stopp, zeigt mit dem Finger auf sich, schimpft, zieht aus dem Koffer ein riesiges Straßenstoppschild und legt es sich an die Linie. Steht still. Ordnet sich. Legt den Finger vor die Maske, bedeutet allen Anwesenden, leise zu sein. Zeigt auf das Kind, schmeißt die Arme in die Höhe, gebärdet „Klatschen“ in die Menge, und alle klatschen. Auch das Kind.

Der Clown winkt „Hallo“ zum Kind und das Kind grinst. Der Clown streckt seinen Bauch nach vorne, weit nach vorne über die Linie, während er seinen Kopf nach hinten bewegt. Mit seinem Finger drückt er auf seinen herausragenden Bauch und signalisiert dem Kind, es ihm nachzutun. Auf seinen Bauch zu drücken. Das Kind zögert. Es bewegt die linke Hand minimal, bleibt dann stecken in der Bewegung. Der Clown stellt sich wieder gerade hin, schüttelt sich. Holt Luft, zeigt mit dem Finger ein Achtung in die Höhe, stellt sich in Position, streckt dann erneut den Bauch nach vorne. Weit nach vorne. Bedeutet dem Kind, seinen Bauch zu drücken. Und das Kind spielt jetzt mit, bleibt hinter seiner Linie mit den Füßen, streckt die Hand nach vorne, bückt sich, beugt sich, schauspielert Anstrengung, streckt den Zeigefinger aus. Und drückt auf den Bauch. Es hupt. Der Clown tanzt hinter seiner Linie. Daumen hoch. Er bedeutet zu klatschen. Alle klatschen. Er bedeutet dem Kind, sich erneut nach vorne zu beugen. Tut es ihm gleich. Streckt den Arm aus. Holt ein Bonbon hinter dem Ohr des Kindes hervor, reicht es dem Kind. Klatscht.

Das Kind läuft zurück in die Menge. Der Clown fordert die Person neben dem Kind auf, nach vorne zu kommen. Die Person kommt. Stellt sich automatisch hinter die Linie des Kindes. Der Clown positioniert sich hinter der eigenen, schiebt den Bauch nach vorne. Weit nach vorne, stellt sich dann ruckartig wieder aufrecht hin, beäugt die Person, die Linie, an der sie steht, vermittelt den Eindruck, sie habe sich bewegt, über die Linie hinausbewegt, schimpft mit dem Finger, verzieht das Gesicht, die Maske, die Nase. Sammelt sich, streckt erneut den Bauch nach vorne. Weit nach vorne. Signalisiert der Person, den Bauch zu drücken. Zu Hupen. Die Person bleibt stehen. Schüttelt den Kopf, lacht, weigert sich. Der Clown stellt sich wieder hin. Irritation unter den Zuschauenden. „Was jetzt?“ Kurzes, lautes Atmen. Die Person hinter der Linie wendet sich ab, geht zurück in die Menge neben das Kind. Der Clown folgt ihr mit den Augen, hebt die Hand an den Mund, begibt sich in Denkerposition, schaut sich die Person an. Wartet. Die Person hebt entschuldigend die Arme, lächelt. Und dann von jetzt auf gleich tritt der Clown aus seiner Starre, fasst mit dieser schnellen Geste über sich in die Luft und hält plötzlich einen Blumenstrauß in der Hand, präsentiert ihn den Zuschauenden, schreitet auf die Person zu, bleibt mit Abstand stehen, streckt den Strauß mit seiner Hand weit vor, übergibt ihn, klatscht, lacht, bittet die Menge zu klatschen und verbeugt sich.

Da hat er sie. Sie, die hinter dem Rhododendron steht und schaut. Aus sicherer Entfernung. Weit mehr als einskommafünf Meter. Die in sich hinein gelacht hat zwischendurch. An diesem mulmigen Gefühl vorbei, ob das gut gehen kann da mit dem Clown und dem Kind, mit dem Clown und dieser Person, die nicht will. Ob der Clown Späße machen würde auf Kosten anderer. Und nun dieses Kribbeln im Bauch. Weil der Clown lacht und Blumen verschenkt. Dafür, dass eine Person sich geweigert hat, „nein“ signalisiert hat. Das macht was mit ihr. Blumen für ein „nein“, an einer Stelle lange bevor es eskaliert. Und sie geht auf die Menge zu, die sich jetzt in Bewegung setzt. Auseinander geht. Die Vorstellung ist beendet. Der Clown packt zusammen. Da steht sie nun. Mitten im Geschehen. Und doch außen vor. Zeitversetzt.

Der Clown nimmt seine Nase ab, packt sie ein, wischt sich Schweiß von der Stirn. Dann bemerkt er sie, wirft ein Lächeln rüber. Eines mit Maske. Kurz darauf eines ohne. Nachdem alle gegangen sind, er die Absperrbänder beseitigt, alles verpackt hat, seinen Koffer in die eine Hand und die Maske mit der anderen vom Mund nimmt. Und sie immer noch steht und schaut. Ein Strahlen. Und sie fühlt dieses Kribbeln.

Der Clown geht in Richtung Straße. Sie zurück durch den Park. Durch den sie am nächsten Tag erneut läuft. In der Hoffnung auf eine Vorstellung. Und den Clown. Und sie hat Glück.

Dieses Mal gesellt sie sich unter die Zuschauenden, beobachtet, verfolgt, lächelt verlegen in sich hinein, verschmilzt mit Bewegungen, Emotionen. Der Clown variiert seine Vorstellung, improvisiert, die Nummer mit den Linien macht er nicht. Andere. Ihr Bauch kribbelt.

Der Clown malt sich mit dunklem, dicken Kinderstift Punkte auf die Clownsnase, verfehlt diese, punktet sich das Gesicht, die Maske. Verbeugt sich. Verteilt wieder rote Nasen an Gummibändern. „Werdet leicht wie die Marienkäfer und fliegt durch den Tag!“, beendet er die Vorstellung durch sein Megafon, und auch ihr reicht er eine Nase. Stutzt. Grinst, wendet sich ab, verteilt weiter. Hat er sie erkannt?

Wieder verbeugt er sich, winkt zum Abschied, gebärdet „Klatschen“ und deutet auf die Umstehenden. Ein Applaus für alle. Deutet dann auf die Körbe auf dem Boden. Mit der Bitte um Bezahlung.

Während die Zuschauenden gehen, bleibt sie stehen. In der Hand die baumelnde Clownsnase. Beobachtet. Der Clown reagiert, indem er aus dem Einpacken eine kleine Vorstellung macht. Lacht. Erst mit, später ohne Maske.

„Das hat mir gefallen mit dem Marienkäfer“, ruft sie ihm zu und erntet ein Grinsen. „Es macht Hoffnung. In dieser Zeit jetzt!“

Der Koffer ist gepackt, verschlossen. Der Clown kommt zu ihr herüber. „Sie müssen die Nase aber auch aufsetzen. Sonst wirkt es nicht.“ Er lacht, und er hat eine Zahnlücke inmitten der tadellos gepflegten Zähne.

Sie setzt die Nase auf. Er nickt. Und grinst. Sie lächelt. Und kribbelt.

„Wie ein Marienkäfer, ja?“, fragt sie und näselt.

„Wie ein verliebter Marienkäfer“, betont er und grinst schon wieder.

„Ich dachte immer, Clowns seien traurig. Also immer traurig und würden die Heiterkeit nur spielen“, sagt sie und fragt sich, wo diese Worte, diese Aussage, dieses Geplauder herkommen. „Diese Leichtigkeit“, denkt sie und schaut dem Clown in die leuchtenden Augen.

„Das mit dem Marienkäfer, das können Sie ruhig ernst nehmen“, sagt der Clown, und sie lächelt verlegen. Er fasst mit einer schnellen Geste hinter ihr Ohr: „Na, da haben wir es ja.“ „Was?“, schrickt sie zurück und er wirft es ihr mit der offenen Hand herüber. „Das Lachen.“ Und sie tritt einen Schritt zurück. Mit dieser roten Nase. Und lacht. Laut.

„Aus vielen Momenten wird ein Leben“, sagt er, nimmt seinen Koffer und geht Richtung Straße.

Sie bleibt stehen, schaut ihm nach. Ob er sich umdreht. „Dreh dich doch um“, denkt sie und an diese Augen und das Kribbeln und erst später stellt sie fest, dass sie alleine in einem Park mit einer Clownsnase steht.

Sie nimmt sie ab und geht direkt zu „Ecki“, ihrer Kneipe. Jeden Freitagabend. Treffpunkt mit ihrer Freundin. Mitten im Kiez.

Die Freundin sitzt am Tresen und flirtet mit der Kellnerin. Sie setzt sich neben die Freundin, erzählt vom Clown. Ohne Umschweife. Die Freundin ist abgelenkt, macht Witze mit der Kellnerin. „Ecki“ kommt dazu. Der eigentlich Piet heißt, wovon keiner mehr weiß. „Ecki“ ist eins geworden mit seinem Laden. Er grüßt in die Runde, zapft Bier, räumt einiges hin und her hinter der Theke. „So wie das halt muss“, denkt sie und nimmt einen Schluck.

Plötzlich wendet sich die Freundin ihr zu, als habe sie sie erst jetzt bemerkt: „Meine Güte, was grinst du denn so?“

Ohne Worte holt sie die Clownsnase aus ihrer Jackentasche und zieht sie sich über.

„Ein Clown?“, die Freundin zeigt sich fassungslos.

Und sie erzählt davon, wie er sich Tupfen ins Gesicht gemalt hat, wie er gelacht hat, wie seine Augen leuchten, wie er sie angeschaut hat, wie schön und gut und freundlich er mit den Leuten war. Wie er ihr einen Marienkäfer geschenkt hat.

„Einen Marienkäfer?“, fragt die Freundin, und da macht sie diese schnelle Geste hinter dem Ohr der Freundin und zieht die Hand als Faust wieder zu sich, öffnet sie und pustet über die Handfläche hin zur Freundin. „Ein Marienkäfer mit Leichtigkeit“, sagt sie und lacht.

Die Freundin schüttelt den Kopf, trinkt einen Schluck, sucht den Raum nach der Kellnerin ab, wendet sich ihr wieder zu „Hör mal, dir ist schon klar, dass es gerade mal fünf Tage her ist, dass dein Typ weg ist, ja? Fünf Tage, oder vier? Und da ziehst du dir so einen Clown an Land?“

 „An Land ziehen“, murmelt sie. „Wie das klingt. An Land fliegen.“ Und sie grinst.

Die Freundin wird ernst. „Du weißt, dass es genauso laufen wird? Er wird dein Geld versaufen, über dich bestimmen, und er wird dich schlagen.“ Das sagt sie im Stakkato. „Ich sag das jetzt mal so in dieser Deutlichkeit. Er wird so sein wie die anderen auch. Clown hin oder her.“

Sie nickt. Seufzt. „Ja“, sagt sie. „So wird er sein.“ Und dann grinst sie wieder. Und spürt das Kribbeln. Lächelt. Mit der Clownsnase.

„Dir ist nicht mehr zu helfen, richtig?“, sagt die Freundin und wendet sich der Kellnerin zu.

Zu Hause wartet der Kater. Er versteckt sich, sobald er den Schlüssel im Schloss hört, und erst wenn er sie riecht, kommt er hervor. Er mochte ihn nicht, ihren Typ. Er hatte Angst vor ihm. Genau wie sie. Diese lähmende Angst. Mit der sie nur noch denken konnte, Augen zu und durch. Nur ja nicht bewegen. Nachdem sie schon alles versucht hatte.

Sie lüftet die Wohnung, und die Dunkelheit der Stadt wühlt sich durch die Räume. Den Staub. Die Erinnerung. Bis hin zum Marienkäfer. Und dem Kribbeln. Sie sitzt am Küchenfenster, schaut auf die fahrenden Autos und nimmt sie nicht wahr. Da ist nur Kribbeln. Der Marienkäfer. Die Leichtigkeit.

Jeden Tag besucht sie die Clownsvorstellung. Im Anschluss flirtet sie. Sie geht etwas trinken mit dem Clown. Etwas essen. Spazieren. Sie knutschen. Sie haben Sex. In dieser Woche scheint die Sonne, obwohl es seit Wochen regnet. Plötzlich ist es Frühling. Sie entdecken einen Marienkäfer, während sie auf einer Parkbank sitzen und sich berühren. Automatisch ziehen beide ihre Clownsnasen aus der Tasche und lachen. „Es wird sich finden“, denkt sie und fühlt es, und ihre Freundin sagt „Er hat dich verhext.“ und Ecki nickt dazu am Freitagabend, und sie trägt auch hier ihre rote Nase wieder.

„Er wird weiterziehen“, sagt die Kellnerin und nickt, und die Clownsnase wippt dabei und sie wiederholt diesen Satz an ihre Freundin gewandt. „Er wird weiterziehen.“

Ihre Freundin schaut sie irritiert an. „Was? Habt ihr noch keine Pläne? Hast du noch keine Pläne mit ihm gemacht? Dass du mitkommst?“

„Nein“, sagt sie bestimmt, und ihre Freundin schüttelt den Kopf. „Er hat dich wirklich verhext, was?“, fragt sie mit dieser sanften Stimme, und sie berührt ihre Clownsnase. „Er lässt mir den Marienkäfer hier“, denkt sie und geht weiter zu seinen Vorstellungen.

Und dann ist er weg. Der Park leer. Die Plätze. Als sei die Stadt plötzlich eine andere. Die Sonne scheint. Der Frühling bleibt. Und hätte sie nicht aufgepasst, dann wäre der Marienkäfer mit ihm weitergezogen. Die Leichtigkeit. Davongeflogen. In letzter Sekunde hat sie sie geschnappt. Mit dieser schnellen Geste. Hinter seinem vor Aufregung glühenden Ohr.

Da hat er überrascht geschaut. Diesen Ausdruck kannte sie noch nicht von ihm. Diese hochgezogenen Brauen. Und sie holte die Hand wieder zu sich, ließ sie geschlossen: „Der Marienkäfer, der bleibt hier bei mir.“ Da hat er gelacht. Erleichtert. Laut. Hat sie auf die Stirn geküsst, seinen Koffer genommen und ist gegangen. Einfach so.

© Mirjam Sarrazin

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