Umkleidekabine

weiße Blüten vor einem blauen Himmel

Hereinspaziert! Kommen Sie näher! Treten Sie ein! Dies ist meine Umkleidekabine und sie hat heute Tag des offenen Vorhangs.

Lassen Sie alles draußen, was stört und hemmt. Für Ihren Hund habe ich nebenan den Pudelklub, für Ihre hyperaktive Riesenechse im Gewölbe einen Spielbereich, und Ihre Kinder können unter Dutzenden Spielkonsolen wählen.

Lassen Sie es einfach laufen, hören Sie für diesen Moment auf mit Grübeln, Tratschen und Tippen, lassen Sie die Sonne in Ruhe, und gönnen Sie sich in diesem Augenblick keinen zweiten Chai Latte. Joggen können Sie morgen, reden Sie mal nicht über Kevin, und lassen Sie das mit dem Hauskauf. Sonnenblumen werden jetzt noch nicht gesät, und für Frühlingszwiebeln ist es sowieso zu spät. Das mit dem Apfelbaum ist nicht so ernst gemeint, wie Ihnen das Ihr Pflichtgefühl suggeriert, und dieses Organisieren, Zuschreiben, Definieren und Affirmieren darf vorübergehend ruhen. Bilden Sie sich ihre Meinung wann anders, und wenn es morgen wieder hell wird, ist auch noch ein Tag.

Es ist für alles gesorgt. Sie sind in den besten Händen. Ein exquisites Buffet steht bereit. Allerdings werden Sie es nicht brauchen. Hunger entwickeln Sie keinen. Das, was Sie erwartet, ist kurz und intensiv.

Bezahlen können Sie später. Geben Sie mir Ihre Kreditkarte, ihren Kaufvertrag für das Haus oder ihre Frühlingszwiebeln. Von mir aus auch das Gras, das Sie nicht mehr rauchen, seitdem Sie marktwirtschaftlich orientiert handeln. Aber später bitte. Jetzt treten sie ein. Vorhang zur Seite. Und rein mit Ihnen.

Wunderbar. Sie sind drin. Angekommen. Herzlich Willkommen in meiner Umkleidekabine.

Jetzt entkleiden Sie sich!

„Alles?“, fragen Sie. Ja. Alles. „Was?“, rufen Sie verdutzt.

„Dann bin ich ja nackt“, sagen Sie. So können Sie das sehen. Das ist der möglichen Perspektiven. „Wie meinen Sie das?“, fragen Sie.

Machen Sie erstmal weiter. Ziehen Sie alles aus. Schmeißen Sie Ihre Kleider von sich. Ich habe etliche Haken angebracht. Sie können alles ordentlich aufhängen. Auch Ihren Schmuck. Ihr Haargummi. Und jetzt schauen Sie doch mal auf ihren linken Zeh. Der große, der die lustigen, kleinen Haare hat. Wie er wackelt. Macht er das immer, wenn Sie sprechen? Oder, wenn Sie unsicher sind? Oder empört? Ah und das Knie. Das scheint dazu zu gehören zu dieser Bewegung, oder? Haben Sie das bemerkt? Der Zeh wackelt und das linke Knie macht so eine ganz leichte Bewegung. Seitlich fast. Und jetzt lächeln Sie. Ist Ihnen noch nie aufgefallen diese Zeh-Knie-Kommunikation? Gehört das Lächeln dazu oder ist das Ihre Reaktion jetzt. Hier in meiner Umkleidekabine?

Der Zeh wackelt weiter. Das Knie ebenfalls. Und da passiert etwas Neues in Ihrem Gesicht. Schauen Sie mal in den Spiegel, genau dorthin. Direkt unter Ihrem rechten Auge. So eine ganz sanfte, kleine Falte. Welcher Muskel ist das? Was passiert da? Was fühlen Sie jetzt?

Es sind noch reichlich Haken frei. Nehmen Sie das Lächeln von eben und ziehen Sie es aus. Hängen Sie es an den Haken oben links. Neben ihre Jeans. Ja, da passt es gut. Wie schön es aussieht. Schauen Sie doch. Und jetzt dieses kleine Gespräch zwischen Zeh und Knie. An welchen Haken kommt das? Und die kleine Falte? Die geben Sie nicht her? Gut. Behalten Sie sie vorerst.

Meine Güte, jetzt haben Sie aber ein Staunen im Gesicht. Warum? Was erstaunt Sie so? Können Sie das Staunen an einen Haken hängen? Ach, Sie staunen über Ihr Gefühl? Sie fühlen sich beschwingt? Neugierig? Gar nicht mehr nackt? Das ist das Staunen? Na, dann hängen Sie all das da an die Haken direkt neben das Staunen. Wunderbar sieht das aus. Wie sich das ergänzt.

Und jetzt werfen Sie bitte schnell einen Blick in den Spiegel. Das müssen Sie sehen! Sehen Sie, was ich meine? Ist das nicht herrlich? So eine Ruhe in Ihren Armen. Das können Sie doch auch erkennen, oder? Wie sie da hängen und all der Anspannung trotzen, die Sie eben noch mitgebracht haben, als Sie durch diesen Vorhang gegangen sind. Ich muss tief seufzen, wenn ich das sehe.

Und ich sehe noch etwas. Ihre Schultern schließen sich an. Sie wollen mitmachen und den Armen hinterher. Unterstützen Sie sie. Hängen Sie diese Armruhe gemeinsam mit diesem Schulterwunsch an diesen Haken hier direkt neben dem Spiegel. Da kommen Sie ganz leicht an. So. Ganz einfach.

Und vielleicht ziehen Sie Ihren Schultern mal dieses Gefühl von eben über? Dieses beschwingt sein? Wow! Es passt ausgezeichnet. Na, und Ihr Bauch? Was ist das da mit Ihrem Bauch? So mittig meine ich. Da, schauen Sie mal. Ich kann das nicht so recht deuten. Okay, jetzt kann auch ich es deuten. Manchmal brauche ich etwas. Aber jetzt ist es natürlich eindeutig. Kriegen Sie das hin, Ihren Bauch zu beobachten, während Sie so lachen? Wie er wackelt und die Muskeln anspannt? Wie er hüpft, und fast möchte ich sagen, wie er tanzt.

Meine Güte, wie Sie lachen können. Haben Sie das gewusst? Ja, das ist eine hervorragende Idee, die kleine Falte von unter dem Auge jetzt an den Haken zu hängen und das große Lachen über das Gesicht zu verteilen. Auch den Schultern jetzt das beschwingt sein wieder aus- und das Lachen anzuziehen. Vielleicht müssen Sie das beschwingt sein gar nicht wieder aufhängen, probieren Sie es doch mal Ihrem Fußgelenk an.

Und wissen Sie was, jetzt geben wir alles. Jetzt ist der Zeitpunkt für ordentlich Power. Für Beat. Und Liebe. Und die Welt umarmen. Ich dreh die Musik mal hoch. Tanzen Sie! Lassen Sie alles raus! Und denken Sie zwischendurch daran, Ihre Gefühle an die Haken zu hängen und durchzuprobieren. Querbeet. Diese Freude des Tanzens auch am Ellenbogen probieren und den Wunsch, wegfliegen zu wollen, über die Wade stülpen. Was wir fühlen, macht unser Denken macht unseren Körper macht unser Fühlen macht unser Denken macht unseren Körper macht unser Fühlen macht. Wo war ich noch?

Herrlich! Sie sind wirklich experimentierfreudig. Genauso. Das ist Umkleiden, was Sie da machen. Ja, nehmen Sie sich das Zehengewackel und hängen es sich ans Ohr. Wie steht Ihrem Po das Bauchkribbeln? Und was antwortet Ihr Kiefergelenk auf das ganz große Lachen?

Sie beeindrucken mich wirklich. Sie waren so starr am Anfang. So verunsichert. Und jetzt feiern Sie hier so ein Fest. Unglaublich. Hören Sie bloß nicht auf. Sie sind ja schon ganz verdreht. Alles ist umgekleidet. Da wirft sich ihr Kniegelenk weg vor Lachen, und im Rücken erkenne ich das Fältchen aus dem Gesicht. Packen Sie da mal die Enge aus Ihrem Hals dazu. Ich stelle mir das wunderschön vor, so ein kleines Fältchen an so einem starken Rücken, befüllt mit Enge. Bei so einer weiten Rückenfläche.

Wie sieht es aus mit Ihrer Angst, nackt zu sein? Sind Sie noch nackt? Sie schütteln den Kopf? Deute ich das richtig? Sie hüpfen so, ich war mir nicht sicher. Wie vielschichtig wir doch sind, oder? Wieviel uns schmückt und kleidet, uns umgibt und innewohnt. Ist das nicht wirklich herrlich? Kleider machen Leute, habe ich mal gelesen. Gefühle machen Leute. Kleiden sie ein. Und so viel Gestaltungsspielraum.

Weinen Sie? Sind das Tränen da bei Ihnen? Trauer, sagen Sie? Oder Wehmut? Sie können das nicht so genau sagen? Ah ja, da sind noch freie Haken. Es gibt ja genug. Ordentlich aufhängen. Und dann was abhängen und anprobieren. Die Tränen direkt neben den Haken mit der Angst aus Ihrem Nacken. Das passt ganz gut, oder? Klar, Sie sind ja schon Profi im Umkleiden. Und jetzt was anprobieren. Die Wut mal das Gesicht runterlaufen lassen und dieses Gefühl, diese „Trauer oder Wehmut oder Sie können es nicht so genau sagen“ in den Nacken setzen. Da schütteln Sie sich aber. Und jetzt also wieder das Lachen? Sie müssen wirklich schon viel Zeit in Ihrem Leben in Umkleidekabinen verbracht haben. Sie haben viel Übung, oder? Sie jonglieren ja richtig mit Ihren Haken und ihren Möglichkeiten.

Haben Sie wieder etwas gesagt? Ja, ich verstehe schon. Die Lippen gehorchen Ihnen nicht mehr richtig, da Sie ihnen das überraschte Zusammenschlagen der Hände von dem Haken ganz hinten angezogen haben. Machen Sie langsam, sonst klingt es eher wie Beatboxen als Sprechen. Aber ich verstehe Sie. Ja. Ah ja, natürlich, ich verstehe jetzt. Das ist vollkommen normal, was Sie da wahrnehmen. Da kann ich Sie beruhigen. Räume verändern sich. Je nachdem, wie wir uns selbst wahrnehmen, konstruieren sich auch die Räume, in denen wir uns bewegen. Unglaublich finden Sie das? Sie haben das Gefühl, high zu sein? Ja. Ich kenne das. Ich sagte es Ihnen zu Beginn. Intensiv.

Sie sind ja nicht alleine hier in meiner Umkleidekabine, der Raum um sie begleitet Sie. Untrennbar. Und Sie können ihn formen. Genial, was? Alles voller Weite und Licht und Frühling und überall tauchen jetzt weiße Blüten auf, sagen Sie? Ja, ich gebe zu, Sie wirken etwas berauscht. Unglaublich, oder? Eben noch in meiner Umkleidekabine und jetzt schon in der Transformation.

Vielleicht könnten Sie Ihren Füßen für einen Moment die Zeh-Knie-Kommunikation anprobieren, die Sie ganz zu Beginn ausgezogen hatten? Diese mit der Unsicherheit? Das würde Sie ein wenig runterbringen. Das drückt an der Ferse? Das glaube ich Ihnen. Ihre Füße sind größer als die Unsicherheit. Sie dürfen sie gleich wieder ausziehen. Was ich sagen will ist, dass es gut wäre, wieder ein wenig anzukommen hier in meiner Umkleidekabine.

Da stehen einige draußen und warten. Die wollen auch den Tag des offenen Vorhangs nutzen. Überlegen Sie doch mal, wie Sie sich jetzt einkleiden wollen, damit Sie meine Umkleidekabine gut verlassen können. Was brauchen Sie? Nein, dalassen dürfen Sie leider nichts. Ich habe hier keinerlei Verwendung für Ihren Kram. Ich kann Ihnen eine Plastiktüte anbieten. Da können Sie alles reinpacken, was Sie jetzt nicht anziehen möchten.

Machen Sie ganz in Ruhe. Lassen Sie sich Zeit. Und vergessen Sie ihre Jeans nicht. Die sollten Sie vielleicht doch besser überziehen, wenn Sie jetzt gehen. Und vergessen Sie auch das Lachen nicht. Das könnten Sie sich doch auf den Kopf setzen, oder?

„Darf ich wieder kommen?“, fragen Sie? Selbstverständlich dürfen Sie wieder kommen. Jederzeit. Aber kommen Sie jetzt erstmal an da draußen. Im Umkleiden sind Sie Profi, das haben Sie mir eindrucksvoll bewiesen. Jetzt wartet der Alltag auf Sie. Aber Sie schaffen das. Ich bin mir sicher. Vielen Dank für Ihren Besuch. Es hat mich sehr gefreut. Und beehren Sie mich mal wieder.

Hereinspaziert! Kommen Sie näher! Treten Sie ein! Dies ist meine Umkleidekabine und Sie hat heute Tag des offenen Vorhangs…

© Mirjam Sarrazin

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