Kastanienmännchen II

Blauer Himmel mit Wolken, in der unteren linken Ecke der obere Teil eines Holzkreuzes mit unleserlichem Zettel daran

Sie haben die Kastanie gefällt, und Leute haben Holzkreuze aufgestellt.

In der Nacht danach ist es nicht auszuhalten. Ich packe die Kastanienkatze in die Tasche meiner Trainingshose und gehe los. Trotz Dunkelheit. Barfuß. Es sind über zehn Grad. Trocken. Irgendwo muss die Kälte ja herkommen. Und der Wunsch, wieder nach Hause zu gehen. Ins Warme. Mit Blick auf die Kastanie, die nun fehlt.  

Die Kastanienkatze fällt auseinander in meiner Tasche, und genauso ist es, dieses alltägliche, innere Auseinanderfallen.

Ich gehe nicht an der Kastanienstelle vorbei, ich gehe in die andere Richtung. Gegen mein Gefühl. „Tee“, denke ich und das ist ein gutes Zeichen, denn Tee ist zu Hause, und nach Hause wollen ist Trost. „Ich habe Zucker.“ Auch das denke ich und dann mache ich etwas Verrücktes. Das liegt sicher an der auseinander gefallenen Kastanienkatze in meiner Tasche. Ich bleibe spontan vor der grauen Tür dieses Hauses mit dem Garagenhof stehen und drücke die unterste Klingel. „Verrückt“, denke ich, und glücklicherweise betätigt bereits jemand den Summer, sonst würde ich wohl gehen.

Ich bitte die Person um Zucker. Ich erzähle nicht einmal eine Geschichte, nur „Haben Sie vielleicht etwas Zucker für mich?“

Und die Person nickt, verschwindet und überreicht mir eine Packung Zucker.

Ich stutze, und jetzt wird mir mulmig. Ich möchte nach Hause. Und das was eben noch mein Ziel war, ist jetzt schmerzhaft.

„Ich brauche doch nicht so viel“, wehre ich ab und will die Packung zurückgeben.

Die Person schüttelt den Kopf: „Ich doch auch nicht.“ Und sie lacht, und irgendwie summt es jetzt in diesem Treppenhaus.

„Ok“, sage ich. „Ok“, sammle ich mich. „Dann vielen Dank. Also vielen Dank.“ Und ich schaue die Person an, und sie verschwindet und schließt die Tür.

Ich gehe los mit diesem Kilo Zucker. Meine Runde zu Ende. Bis zum Kastanienbaum. Der nicht mehr ist. Überquere die Straße. Und friere, und auf dem Parkplatz steht der Polo.

Ich hocke mich vor den Stumpf. Diese große Wunde. Öffne die Zuckerpackung, lasse den Inhalt herausrieseln. Verteile ihn mit ausufernden Bewegungen. Als die Packung leer ist, hole ich die auseinander gefallene Kastanienkatze heraus. Sie sieht erbärmlich aus und maunzt mir versöhnlich mit ihrem Eddinggesicht entgegen. Sie liebt Zucker. Also stecke ich sie wieder zusammen und setze sie mitten hinein. „Auf Wiedersehen, Katze.“

Zu Hause stehe ich am dreckigen Fenster. Der Zucker strahlt im Licht der Straßenlaterne. Die Katze leckt den Zucker.

Dort, wo der Kastanienbaum stand, ist jetzt Leere.

Und dort, wo Leere war in mir, ist jetzt ein Gefühl. Ein greifbares. Und das ist vielleicht etwas zum darauf aufbauen. Man muss ja auf etwas bauen können. Wiedergutgehtjanicht.

© Mirjam Sarrazin

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