Ich hocke auf dem Bürgersteig im Nieselregen und begleite eine Schnecke. Sie ist auf dem Weg von dem kleinen Grünstreifen am Straßenrand in den vielversprechenden Garten des Einfamilienhauses. Einmal quer über den Bürgersteig. Ich schaue ihr beim Kriechen zu, beobachte die kleinen Fühler, die sich vorsichtig in alle Richtungen strecken, einziehen, dann wieder ausfahren. Ich hocke in einigem Abstand. Ich will sie nicht erschrecken. Ich habe sie entdeckt, und ich möchte nicht, dass sie zertreten wird auf ihrem Weg. Diesem Gehweg.
Es dauert. „It takes time“ huscht mir durch den Kopf, und ich spüre das Zeitnehmen in mir.
Als die Schnecke im saftigen Grün am Gartenzaun angekommen ist, setze ich meinen Weg fort.
Später am Tag habe ich einen Termin in einem mir wenig vertrauten Stadtteil und bin froh, nach einigem Suchen einen Parkplatz zu finden, an dem kein Verbotsschild steht. Ich steige aus, erledige meinen Termin und laufe zurück zum Auto, müde, hungrig, gedanklich mit dem Abendessen beschäftigt.
Vor meinem Auto steht eine Frau, und ich kann aus der Ferne erkennen, dass sie aufgebracht ist. Als ich näherkomme, entdecke ich ein schwarzes Auto, das quer direkt hinter meinem auf der Straße parkt. Vorbeifahrende Autos hupen. Alles wirkt hektisch. Mir ist die Szene auf Anhieb klar, und ich wappne mich innerlich. Distanziere mich, bevor ich die Frau anspreche: „Entschuldigen Sie, ist das hier Ihr Parkplatz?“
Schon legt sie los. Dass es genau so sei, ihr Parkplatz! Ob ich die Schilder nicht gesehen hätte. Dort seien große Schilder am Anfang der Straße. Dass es immer wieder solche wie mich gäbe. Dafür habe sie keine Zeit. Absolut keine Zeit. Und auch keine Geduld. Sie habe schon den Abschleppwagen gerufen. Der komme gleich.
Sie ist laut und wütend und aufgebracht, und am Hals bekommt sie rote Flecken, während sie redet. Ich möchte weinen. Es tut mir leid. Ich habe tatsächlich keine Schilder gesehen, habe extra geschaut. War so froh über den Parkplatz. Und nun das.
„Und nun wieder sowas hier“, ruft die Frau, und mir fällt das Wort „Zetern“ ein, ohne genau zu wissen, ob es passt.
„Es tut mir leid“, sage ich und versuche überzeugend zu klingen. Weil es mir leidtut. Weil ich ihre Not spüre, ihren Stress, weil ich so einen Zustand nicht habe auslösen wollen. Es tut mir leid. Bis irgendwo tief in meinen Bauch hinein.
„Wie gesagt, der Abschleppwagen ist gleich hier. Es reicht mir jetzt. Sowas muss ja nicht immer wieder sein. Dafür habe ich keine Zeit“, wütet sie weiter und nickt einer Person auf der anderen Straßenseite zu. „Ja, wieder einmal. Da kann man wohl einfach nichts machen“, ruft sie quer hinüber.
Ich möchte im Erdboden verschwinden, und da fällt mir die Schnecke ein. Ihre Ruhe. Die Zeit, die es brauchte. Das kleine, perfekte Haus, die Kreise darauf, die Muster. Ich entspanne mich etwas, während die Frau in ihr Handy tippt.
„Es tut mir wirklich leid“, nehme ich Anlauf. „Ich kenne mich hier in der Gegend nicht aus. Ich habe wohl nicht richtig geschaut. Aber jetzt bin ich ja hier und kann das Auto wegfahren. Dann können Sie parken. Vielleicht wäre es auch eine Möglichkeit, den Abschleppdienst anzurufen und abzubestellen? Ich würde Ihnen gerne meine Adresse geben, dann kann er mir die Rechnung schicken.“
Die Frau schaut von ihrem Handy auf. „Ja, sicher kann ich da anrufen. Ich habe die ja auch gerufen. Wissen Sie, ich bin es einfach leid. Das hier nervt einfach nur noch.“
Ich spüre dieses Grummeln in meinem Bauch. Dieses Unwohlsein. Die Frau macht ausholende Gesten. „Ich bin es einfach wirklich leid.“
„Ja“, sage ich. „Das kann ich verstehen.“
„Nichts können Sie“, unterbricht sie mich. „Gar nichts.“ Und dann schiebt sie ein verärgertes „Ich ruf da jetzt an.“ hinterher.
Sie tippt in ihr Handy, hält es ans Ohr, wartet, lässt das Handy sinken. „Muss ich gleich nochmal probieren“, murmelt sie und sieht müde aus. Es entsteht ein Moment der Stille. Wie ein Raum der Begegnung zwischen uns.
„Ich habe heute Morgen eine Schnecke dabei begleitet, den Bürgersteig zu überqueren, damit sie von niemandem zertreten wird“, höre ich mich sagen und kann es gar nicht fassen.
Ähnlich geht es der Frau. Perplex ist das Wort, das mir zu ihrem Gesichtsausdruck einfällt, und dieses Mal bin ich sicher, dass es passt. Ohne einen Kommentar hebt sie ihr Handy wieder an, tippt zweimal aufs Display und hält es sich ans Ohr, dieses Mal ohne mich aus den Augen zu lassen. „Ja. Ich bin es. Ja. Die Halterin ist jetzt hier. Seid ihr schon losgefahren?“
Sie schaut mir in die Augen, während sie der Antwort zuhört. „Ja. Dann regeln wir das jetzt hier so. Ja. Weißt du ja, wie das hier ist. Super nervig.“ Und in diesen zwei Worten liegt so viel Ablehnung, dass es mir weh tut. Ich denke an die Schnecke.
Die Frau beendet das Telefonat, nimmt das Handy vom Ohr und steckt es in ihre Handtasche.
Einen kleinen Moment lang ist es ruhig zwischen uns.
„Ich fahre dann jetzt meinen Wagen zur Seite und Sie verschwinden hier“, bestimmt sie und läuft bereits zu ihrem Auto. Kurz bevor sie einsteigt, dreht sie sich zu mir um. „Sie Schneckenkönigin“, ruft sie, und plötzlich kommt mir dieses Bild in den Kopf, wie sie mit ihren Freund*innen an einem hergerichteten Tisch mit Prosecco sitzt, mit langen Gläsern anstößt und im Laufe des Abends von leisem Kichern zu kribbeligem Kreischen übergeht. Und von dieser Schneckenkönigin erzählt, die ihr ihren Parkplatz weggenommen hat.
Vorsichtig steuere ich aus der Parklücke, fahre durch Schleichwege nach Hause. Es dauert. Zeit, durchzuatmen. Vorübergehend in der Zeit verschwinden. „Situation gelöst“, denke ich und lasse die Erleichterung zu, während ich an die Parkszene denke und bleibe an der „Schneckenkönigin“ hängen. Da war etwas Versöhnliches in der Stimme der Frau. Etwas Abschließendes. Ich stelle sie mir erneut im Kreis ihrer Freund*innen vor.
In der Nacht darauf scheint der Mond durch mein Fenster, und vielleicht ist es sein Licht, das mich weckt. Es ist sehr früher Morgen, noch dunkel. Ich finde den Weg zurück in den Schlaf nicht, stehe schließlich auf, ziehe mir etwas über, schlüpfe in die Sneaker und verlasse die Wohnung. Es ist warm draußen mit diesem kühlen, nächtlichen Sommerwind. Ich laufe durch die umliegenden Straßen und bewundere die dunklen Fenster, die schweigsamen Vorgärten, diese Ruhe, die auf allem liegt. Ich sehe eine Ratte über die Straße huschen. An anderer Stelle eine Katze. Dann noch eine. Und dann sehe ich die Gestalt. Ich sehe sie an genau der Stelle, an der ich am Vormittag auf dem Bürgersteig gehockt habe, und ich weiß sofort, dass es die Schneckenkönigin ist. Langsam nähere ich mich ihr über die leere Straße. Durch das helle Mondlicht erkenne ich ihre undefinierten, wabernden Konturen. Sie erinnert mich an Zuckerwatte aus einem festen, gallertartigen Material, das seine Form stetig variiert. Wie Schleim, denke ich. Wie ein riesiger Berg Schleim und doch fest. Mir imponiert diese weiche Üppigkeit. Sie ist durchscheinend rötlich-braun mit dieser gewellten Schneckenmusterung, die einige Nacktschneckenarten tragen. Ein Gesicht ist nicht auszumachen, jedoch empfinde ich den Ausdruck der Schneckenkönigin als zutiefst friedlich. Je mehr ich mich ihr nähere, umso mehr verstärkt sich die nächtliche Ruhe um mich herum und führt zu einem Gefühl von ausfüllender Entspannung in mir.
Ich bin mir unsicher im Umgang und fühle dennoch diesen wachsenden Drang, ihr nahe zu sein, und setze behutsam Schritt vor Schritt auf sie zu. Schließlich stehe ich am Straßenrand, und nur noch der dünne Grünstreifen trennt uns voneinander. Ich sehe die Schnecke, die ich am Vormittag begleitet habe. Sie ist auf dem Rückweg, kriecht vom Garten zurück zum Grünstreifen. Die Schneckenkönigin verharrt daneben auf dem Bürgersteig, als gehörten sie zusammen.
Dann sieht sie auf und nickt mir zu. Freundlich. Anerkennend. Lächelnd. In meinem Bauch fliegen Schmetterlinge. Ob sie am Vormittag auch hier gewesen ist? Warum habe ich sie nicht gesehen?
Ich setze mich seitlich auf den Bordstein und beobachte die Schnecke beim Kriechen. Spüre die Schneckenkönigin und ihre Präsenz.
Denke an die Frau aus der Parklücke und frage mich, ob sie einen guten Abend hatte und nun schläft.
Fühle mich getragen, begleitet.
Es ist beruhigend zu wissen, dass sie da ist, die Schneckenkönigin. Es ist heilsam, ihre Anwesenheit zu spüren. All ihre Energie liegt in dieser Anwesenheit, in ihrer Begleitung. Auch in den Momenten, vor denen ich mich fürchte. Wenn ich nicht aufpasse, nicht ausreichend achtgebe, eine Schnecke nicht entdecke. Weil ich die Zeit nicht immer habe, die es braucht. Eine Schnecke zertreten wird. Überfahren. Zerquetscht. Die Schneckenkönigin bleibt. Verharrt. Spendet Trost und Mitgefühl und begleitet. Jede Situation.
Irgendwann stehe ich auf, nicke der Schneckenkönigin zum Abschied zu und gehe langsam nach Hause. Die ersten Vögel singen. Da ist ein Hauch von Tag, und ich beginne ihn in Begleitung. Es ist gut, nicht alleine zu sein. Es ist gut zu wissen, dass ich unachtsam sein darf und andere da sind, die auffangen. Die Schnecken. Die Frau aus der Parklücke.
Und mich.
© Mirjam Sarrazin