Hinten in den Feldern habe sie es gesehen. Sie sei sich ganz sicher.
Sie steht an diesem Stand und verfolgt die Handgriffe der Verkäuferin und die der Kund*innen mit ihrem Blick, während sie redet. „Es ist klein. Es hat langes Haar und keine Schuhe. Es trägt eine Hose und ein Shirt. Aber das trägt es nicht am Oberkörper so wie man das eben macht, sondern zusammen gebunden auf dem Kopf. So“, sagt sie und deutet mit ihren Händen ein vages Knäuel auf ihrem Kopf an. Dafür muss sie die Einkaufstaschen abstellen. Anschließend greift sie wieder nach ihnen, hebt sie hoch und redet weiter: „Das sieht merkwürdig aus. Irgendwie nicht ganz richtig. Es läuft dort zwischen den Büschen herum. Und über die Wiese. Ich habe es auch schon am Fluss gesehen. Da hat es gehockt. So wie Kinder halt hocken. Es hat ins Wasser geschaut. Irgendwie ist es, als gehört es dahin. Das ist ja das Komische. Es ist doch ein kleines Kind, das ganz alleine da herumläuft. Aber es gehört irgendwie dahin. Aber das kann ja nicht sein. Wie als wäre es Teil der Natur. So komisch. Sowas darf doch nicht sein.“ Sie spricht schnell. Sie ist aufgeregt. Sie merkt nicht, wie schwer ihre Taschen sind. Sie redet sich in Rage. Sie möchte gehört werden. Sie möchte das loswerden. Weggeben von sich. Die Verkäuferin hört ihr zu und macht nebenbei ihre Geschäfte. Die Kund*innen hören ihr zu. Und kommen und gehen. Manche pflichten ihr bei: „Sowas geht doch nicht. Es ist doch ein Kind. Das kann doch nicht einfach mutterseelenallein da herumlaufen.“
Sie geht jeden Tag auf den Markt, und immer wieder, wenn sie es am Vortag gesehen hat, erzählt sie davon. Manche gehen auch zum Deich und halten Ausschau nach dem Kind. Sie verlegen ihre Sonntagsspaziergänge auf die Felder am Fluss und achten auf jede Bewegung in den weitläufigen Auen. Niemand entdeckt es. Sie sehen es nicht. Die Frau aber beobachtet es immer wieder. Gezielt läuft sie zu unterschiedlichen Zeiten die kurze Strecke von ihrer Wohnung zum Deich und sucht die Wiesen ab. Auch mal spätabends und einmal morgens, kurz bevor der Tag erwacht. Sie sieht es nicht immer. Aber an diesem frühen Morgen kann sie es erkennen. Während die Vögel singen, und man das Gefühl hat, es gäbe nichts an Geräuschen in dieser Welt als Gespräche dieser Vögel, da läuft es barfuß wie immer über den kleinen Pfad aus plattgedrücktem Gras zwischen den Sträuchern entlang. Es scheint Brombeeren zu pflücken. Die Frau schüttelt den Kopf. Das geht doch nicht. Wo gehört es denn hin? Es muss doch irgendwo hingehören. Hat es denn kein Zuhause?
Mittlerweile ist das Kind ein wesentlicher Bestandteil des Wochenmarkts und darüber hinaus. Täglich tauschen sich die Leute aus. Beim Einkauf. In ihren Büros. Hinter gehäkelten Gardinen am Küchentisch. Bis in die Kinderzimmer, in denen Kinder spielen, sie seien ein Kind, das in den Feldern lebe und sich von Beeren ernähre.
Es ist eine Geschichte, vielleicht auf dem Weg zur urbanen Legende. Irgendwo zwischen Phantasie und Realität. Manche halten die Frau für verrückt. Sie nutzen das Wort vereinsamt. Andere glauben ihr und an das Kind und verstehen doch nicht so recht, was passiert. So ein Kind kann es nicht geben, es würde doch vermisst werden irgendwo. Und wenn doch? Dann darf das nicht sein. Ein Kind allein in den Feldern? Tag und Nacht? Das geht doch nicht. Dann sollte man die Behörden verständigen. Da sind sie sich einig und halten sich doch zurück. Denn wenn es wirklich so wäre, dann hätte doch längst jemand die Polizei alarmiert?
Also tut niemand etwas.
Bis dieser Kinderschuh unten am Fluss gefunden wird. Er muss lange im Wasser getrieben sein. Die Farbe ist nicht mehr zu erkennen, und es fehlt der Schnürsenkel. Aber er könnte passen zu der Vermisstenanzeige, die aufgegeben wurde in der Stadt viele Kilometer flussaufwärts. Von dem Mädchen, das vor einigen Wochen plötzlich verschwand. Das denkt die Polizei, die von der Verkäuferin vom Markt verständigt wird, nachdem ihr eine Kundin den Kinderschuh bringt, den ihr der Bruder ihres Mannes gegeben hat, der am Fluss mit dem Hund spazieren war. Auf der Suche nach dem Kind, das er für ein Hirngespinst hält. Nun erfährt die Polizei von dem Kind, das die Frau seit einigen Wochen in den Feldern sieht.
Und so kommen sie mit einer großen Gruppe Beamt*innen und mit den Hunden. Sie durchkämmen die Felder, die Baumgruppen, das Unterholz. Die Hunde schnüffeln. Es gibt auch Taucher*innen am Fluss. Die Wasserpolizei fährt auf und ab. Sie machen das drei Tage lang. Das Gelände ist überschaubar. Sie finden nichts.
Die Frau steht oben am Deich hinter der Absperrung und beobachtet das Geschehen. Sie kann das nicht einordnen, was hier passiert, obwohl sie die Worte genau verstanden hat, die der Polizist ihr erklärt hat. Und die sie in der Zeitung liest. So recht weiß sie nicht, wie ihr geschieht. Und hat sie es da nicht eben gesehen, das Kind? Auf dem kleinen Trampelpfad neben der Trauerweide? Dort, wo der Polizeihund jetzt schnüffelt und stehen bleibt und anschlägt und sich dann mit seiner Körperhaltung dagegen wehrt, diese Anweisung auszuführen und weiter zu bellen, und lieber weg will. Und zieht. Und drängt. Und dafür gerügt wird vom Herrchen. Der gleichzeitig aber, ohne es selber zu merken, auf das Signal des Hundes eingeht und die herbeieilenden Kolleg*innen schon wieder wegschickt. „Hier ist nix.“ Und im Vorbeigehen einen schnellen Blick zurück wirft über die Schulter auf die Stelle, an der der Hund angezeigt hat, um sich zu vergewissern. Nein, da ist nichts.
Nach den drei Tagen ziehen sie ab. Das vermisste Mädchen haben sie woanders gefunden. Der Schuh war nicht ihrer.
Das zertrampelte Gras richtet sich wieder auf, die Bauern dürfen ihren Mais nun einfahren, und die Kinder aus dem Dorf holen sich die Absperrbandreste, um sie in ihren Buden oben in dem kleinen Wäldchen an der Kirche zu verbauen. Die Frau geht wieder täglich auf den Markt. Es wird viel geredet über den Polizeieinsatz. Abends sitzt sie vor ihrem Fernseher und zieht ihre Wolldecke fest um sich, weil sie friert. Und weil sie sich unsicher ist, ob sie nochmal schauen soll nach dem Kind. Morgen. Oder vielleicht übermorgen.
Vielleicht wäre das gut.
Denn ich verrate euch etwas. Es wäre dort, das Kind. Sie würde es sehen. Morgen oder übermorgen. Es spielt keine Rolle. Es ist immer dort. Es lebt ja dort. Und vielleicht kann die Frau es sehen, weil sie auch mal so ein kleines Mädchen war, das besser in den Feldern gelebt hätte als dort, wo es gelebt hat.
Doch die Frau geht nicht. Sie traut sich nicht. Sie hat dieses beklemmende Gefühl, seitdem die Polizei dort herumgelaufen ist. Mit den Hunden. Und sie das Kind gesehen hat. Sie weiß nicht mehr, was sie denken soll. Vielleicht ist es die Vereinsamung, denkt sie und schaltet den Fernseher um.
Das Kind aber pflückt Brombeeren und wilde Erdbeeren, und es badet im Fluss und schläft jetzt, wo der Mais nicht mehr steht, versteckt unter Büschen. Es erholt sich von dem Getöse dieser drei Tage. Von der Anstrengung, verschwinden zu müssen. Als sie kamen, musste es schnell gehen. Es gab keine Zeit nachzudenken. Reflexartig musste es handeln. Es legte sich ausgestreckt in das Gras. Was die größte Anstrengung war. Sich gegen die Angst ausgestreckt ins Gras zu legen. Die Augen zu schließen. Tief zu atmen. Sich hinzugeben. Dem Wind in den Pappeln. Und sich dann in sich hineinfallen zu lassen. Es musste suchen im Inneren. Wie die Polizeitaucher*innen, die es im Fluss gesehen hatte, musste es in sich hinein tauchen und suchen. Es spürte sich durch die Ebenen hindurch, die dort waren. Es suchte die Balance. Es war anstrengend, und es war minutiöse Kleinarbeit. Und dann endlich fand es, was es suchte, da war schon der erste Hund in der Nähe. Wie als würden innere Augen sich scharf stellen, tauchten jetzt machtvolle, kräftige Wurzeln direkt vor ihm auf. Es fühlte die raue Oberfläche, roch die Erde, von denen sie geschützt wurden, erkannte jede Pore der Jahrhunderte alten Wurzelhaut. Das Kind atmete all das tief in sich hinein. Da war sie, diese Ruhe. Diese Entspannung. Der Stamm tauchte auf. Mit Kerben und Flechten und dieser Weisheit, die man manchmal fühlen kann. Ganz nah. Das Kind war nun vor dem Baum, und der Baum war im Kind. Das Kind wurde der Baum. Es schaute hoch. In die Krone. Und im selben Moment fühlte es diese Fülle an Leben, an Sauerstoff, an Bewegung tief in sich. Es war so voller Grüntöne, so ganz, so voller Klang, dass es den letzten Schritt wagte und im Inneren gänzlich aufgab, was es noch an der Oberfläche gehalten hatte. Es war jetzt überall und nirgendwo. Es war in den Brombeeren, in den Ameisen, die darauf krochen. Es flog mit der Hummel von der Brombeerblüte hinüber zum Löwenzahn, und mit einem Windstoß verstreute es sich über die gesamte Wiese. Es war in den Polizeihunden und es wäre in den Polizist*innen gewesen, wären diese frei und ohne diese undurchdringbaren Schutzhüllen gewesen. Es war in der Frau oben am Deich. Es war in der Sonne, im Fluss, in den Mohnsamen und tief unter der Erde in den Nährstoffen und im Wasser.
Es gehörte ja dazu. Es war ja eins. Auch als die drei Tage vorbei waren, und Ruhe einkehrte, und das Kind wieder in seinem Körper ankam.
Vielleicht fasst die Frau eines Tages Mut und geht doch wieder hin und schaut, ob sie es findet.
Solltet Ihr es einmal zu Gesicht bekommen, dann würde ich mich freuen, wenn Ihr meinen kleinen Tipp in euren Gedanken habt. Lasst es einfach dort sein. Es gehört dorthin. Es hat früh gelernt, allein für sich zu sorgen, und es kommt klar. Es geht ihm gut dort. Besser als irgendwo sonst auf dieser Welt.
Ihr könnt es beobachten, und vielleicht könnt ihr mal bei euch nach innen gehen. Ihr müsst nicht gleich soweit tauchen wie das Kind. Vermutlich seid ihr gar nicht so geübt wie das Kind. Es reicht ein kleines bisschen. Nur um einmal zu schauen, ob ihr einen Bereich habt in eurem Inneren, der davon profitiert, das Kind zu beobachten. Wie es so frei und so in und mit sich dort in den Feldern lebt.
Und wenn Ihr dann das Bedürfnis bekommt, etwas zu tun für das Kind, dann könnt Ihr ihm mal ein ausrangiertes T-Shirt auf die alte Bank unten neben dem Steinkreuz legen. Drapiert es so, als hättet Ihr es dort aus Versehen vergessen. Es hilft, wenn es vielleicht ein wenig schmutzig ist. Ein Klecks Brombeermarmelade vom Frühstück wäre vielleicht gut. Oder ihr packt ein kleines Päckchen mit frischem Gemüse. Oder ein paar Kekse. Wickelt sie zum Beispiel in ein altes Küchentuch. Ihr könntet es auf die Bank legen. Eher so dahingelegt. Als hättet Ihr es abgelegt und dann nicht daran gedacht, es auszupacken oder wieder mitzunehmen.
Und wundert euch nicht. Es wird dort einige Zeit liegen bleiben. Es wird Regen abbekommen und Sonne. Es kann passieren, dass Spaziergänger es eine Weile mit sich tragen und in den nächsten Mülleimer schmeißen. Auch das T-Shirt wird eine Weile auf der Bank verbringen. Und vielleicht von den Krähen auf den Boden geschmissen werden.
Ihr werdet das aushalten müssen. Ihr werdet Geduld brauchen.
Dann aber, wenn es sich ganz sicher ist, dass es niemand merkt, und dass die Sachen niemandem gehören, dass es keinerlei Verbindung mehr gibt zwischen euch und den Sachen, dann wird das Kind kommen und sie sich holen. Unbemerkt. Ihr braucht euch gar nicht anstrengen und Pläne machen, ihr werdet es nicht sehen, während es sich das T-Shirt holt. Oder das Päckchen. Von der Bank. Oder aus diesem Mülleimer, in dem es gelandet ist. Ganz sicher nicht. Bitte seid nicht so ehrgeizig. Es rührt die Sachen sonst nicht an.
Mit Geduld aber und indem Ihr die Sachen dem Lauf der Dinge übergebt, wird es kommen und sie sich holen. Und es wird sich freuen.
© Mirjam Sarrazin