Vor einigen Tagen sah ich einer Person dabei zu, wie sie eine Hauswand goss. Sie hielt eine kleine, gelbe Gießkanne in der Hand und ließ Wasser an der grauen Hauswand herunterlaufen. Dann setzte sie ab und ging. Zwei Tage später das gleiche Geschehen am gleichen Fleck Hauswand. Heute wieder, und heute spreche ich sie an. „Sie gießen aber jetzt nicht die Hauswand, oder?“, frage ich.
Die Person dreht sich zu mir um, sagt nichts, wendet sich erneut der Hauswand zu und leert die Kanne. „Nein, keine Sorge. Ich hänge Wäsche auf“, sagt sie mit einer festen, ruhigen Stimme.
„Ah“, sage ich. Und „Na, ich hatte mich schon gewundert.“
Dann gehen wir in unterschiedliche Richtungen davon. Der Begriff Seelenruhe streift meine Gedanken, und gleichzeitig habe ein Gefühl, wie wenn ich alte Stummfilme schaue. Ich sehe die Person in den nächsten Wochen immer mal die Hauswand gießen. Immer am gleichen Fleck. Ich gehe nicht mehr zu ihr. Sie gehört bald zum Straßenbild, und erst als einige Tage später plötzlich drei langstielige, prachtvolle Sonnenblumen mit herrlich grünen Blättern an der Hauswand blühen, bleibe ich noch einmal an der Stelle vor der ursprünglich grauen Hauswand stehen und staune über Kreativität und Können. Und darüber, dass jemand dieses Gemälde angefertigt hat, nachdem die Wand gegossen wurde. Ich ärgere mich über mein vorausgegangenes Desinteresse. Ich würde gerne wissen, ob die gleiche Person diese Hauswand bemalt hat, die sie auch gegossen hat, oder ob da jemand genau wie ich aufmerksam wurde auf das Gießen und im Anschluss diese Blumen gezaubert hat.
Irgendwann entdecke ich die Person mit der gelben, kleinen Gießkanne wieder. Im gleichen Kiez steht sie in einer Seitenstraße und gießt einen gigantischen Findling vor einem Schulhof.
„Hängen Sie wieder Wäsche auf?“, frage ich und empfinde so etwas wie Vertrautheit, während ich den Blick auf den großen Stein richte. Die Person schaut zu mir hoch und schüttelt den Kopf. Aus der schräg gehaltenen Gießkanne kommt jetzt kein Wasser mehr.
„Haben Sie die Sonnenblumen an die Hauswand gemalt?“, frage ich und deute mit meiner Hand vage die Richtung an.
„Nein. Sie?“
Ich schüttle den Kopf und bin verunsichert. Ich suche nach einem Satz, einer Frage, nach Worten und finde nichts. Die Situation endet, wir gehen auseinander. Ich fühle mich leer, setze meinen Weg fort.
Auf dem Spielplatz um die Ecke beobachte ich das Gewusel. Zwei Kinder buddeln im Sand, rufen sich zu, was sie gerade bauen, was da wohl wäre und wie das wohl aussähe, und das eine Kind ruft: „Jetzt wäre wohl Abend.“ Und das andere hüpft aufgeregt hoch und ergänzt: „Und jetzt wäre wohl dann der Vulkanausbruch.“ Und nun hüpft das andere, und wie über eine unsichtbare Schwelle halten beide kurz inne, bevor lautes Getöse ausbricht und mit ihm der riesige Sandvulkan. „Mega“, schreit das eine Kind, und das zweite jauchzt und wälzt sich in Lava.
Ich gehe weiter.
Ich denke an diese Fotos von Löwenzahn, der an unwegsamen Orten sprießt. Zwischen Gehwegplatten, in löchrigen Mauern. Ich mag das. Dass Überall immer irgendwie Hoffnung ist. Was wachsen kann. Ich denke darüber nach, dass ich diese Bilder mag, und dass es für mich aber immer nur ein Symbol ist. Nix für mich und nix zum wirklich darauf vertrauen. Und immer einen Hauch zu kitschig. „Eine Hauswand gießen“, sage ich laut vor mich hin und schüttle den Kopf, und ganz leise denke ich, dass ich jetzt auch etwas gießen möchte.
Zu Hause nehme ich die Karaffe vom Küchentisch, befülle sie mit Wasser und trage sie die sechs Stufen vor der Haustür nach unten in den überdachten Eingangsbereich, in dem alte Räder stehen, und in dem die Nachbarin aus dem Souterrain vor Wochen angefangen hat, alte Blumentöpfe auszuleeren, um sie frühlingsfit zu machen und neu zu bepflanzen, was sie sicher vergessen hat, weil ihr ständig das Leben zwischen ihre Projekte komme, wie sie sagt, und jetzt ist Juli. Das, was sie aus den alten Töpfen und Kästen geleert hat und ein Sammelsurium aus verdorrten Pflanzenresten und abgestorbenen Wurzeln in Erdklumpen ist, hat sie in einen großen, grünen Stoffsack gefüllt mit zwei Trageschlaufen an den Seiten. „Um es zur Mülldeponie zu fahren“, hat sie erklärt, noch im Projekt und im Eifer.
Ich verteile das Wasser aus meiner Karaffe über den ausgetrockneten Inhalt dieses Sacks. Ich erinnere mich an Borretsch, an Kräuter, Kapuzinerkesse, an Tomaten und an Zucchinipflanzen im letzten Sommer in Töpfen und Kästen, die dieses Jahr leer geblieben sind und traurig aussehen, und ich erinnere mich, dass die Zucchini, die die Nachbarin mir geschenkt hat, saftig geschmeckt hat.
„Vielleicht wird das ja noch was“, sage ich zum Sack und denke, alte Erd- und Pflanzenreste gießen mit Hoffnung verbinden ist ja tatsächlich eher was für so Leute wie mich, die erst damit anfangen, Zutrauen in Wunder aus dem Nichts zu entwickeln. Denn immerhin war da ja schonmal was in dieser Erde. Und doch glaube ich nicht daran und gehe mit der leeren Karaffe zurück in meine Wohnung, stelle sie auf dem Küchentisch ab und setze mich davor auf diesen wackeligen Plastikstuhl. Es muss ja nix wachsen, beruhige ich mich selbst. Vielleicht reicht es auch einfach zu gießen, denke ich. Und ich denke an die Person mit ihrer gelben, kleinen Gießkanne und gestehe mir ein, dass ich mir wünschen würde, sie plötzlich draußen im Eingangsbereich zu entdecken. Wie sie den Stoffsack gießt. Sie, die Expertin. Ganz sicher würde dann etwas wachsen in einigen Wochen in diesen Überbleibseln vom letzten Jahr. Und vielleicht auch etwas in mir.
© Mirjam Sarrazin