Ich arbeite als professionelle Entrümplerin. Ich habe schon als Kind gerne in fremden Kinderzimmern gebuddelt und sortiert und entsorgt. Gerne auch in meine eigenen Taschen. Kleinigkeiten. Glitzerkram. Den gab es nicht bei mir zu Hause. Der fehlte.
Ich habe vier große Brüder, und der Jüngste bekam mit neun Jahren Leukämie. Er hat diesen Monsterangriff überlebt, und anschließend kam ich als Nachzüglerin. Meine Eltern haben sich immer ein Mädchen gewünscht. Als ich dann da war, war irgendwie die Luft raus. Oder sie trauten dem Leben nicht mehr über den Weg.
Mein Vater ging mit seinem Betrieb pleite, wir lebten in einer zu kleinen Wohnung, und mein Lebensgefühl als Kind war diese ständige Enge in der Brust. Mich begleitete die Angst, zu lebendig zu sein. Aufzufallen. Irgendetwas Unbedachtes zu tun. Oder einfach zu viel zu tun. Zu tief einzuatmen und diese vakuumierte Welt zum Platzen zu bringen.
Mit 13 entwickelte ich Asthma. Meine Eltern meldeten mich aus Sorge vom Hip Hop ab, dem einzigen Ort, an dem ich frei atmen konnte, und aus Wut und Trotz begann ich zu rauchen und traf mich nun mit meinen Mädels hinter der Turnhalle bei den Garagen zum Rauchen und nicht in der Halle zum Tanzen.
Sobald ich konnte, zog ich aus. Ich konnte, weil ich einen Job an einem Marktstand annahm und sechsmal die Woche Obst verkaufte. Ich zog in ein winziges Dachzimmer mit Kochnische. Der Vermieter lebte im restlichen Haus, war dement und wurde regelmäßig von Pflegekräften betreut. Einer von ihnen bot mir das Essen an, das geliefert wurde und das mein Vermieter nie aß, und als Gegenleistung schenkte ich ihm Brombeerschnaps, den meine Oma vor ihrem Tod gebrannt hatte und der sich abgefüllt in kleinen Fläschchen nun neben Altpapier und Altglas in der Sechsquadratmeterküche meiner Eltern stapelte. Ich nahm immer Flaschen mit, wenn ich sie besuchte.
Ich strich das Zimmer pink. Auch die Decke. Ich dekorierte mit Glitzerkram, den ich auf Flohmärkten und Sperrmüllerkundungstouren fand. Ich ließ Stöcke von der Decke hängen und von diesen vergoldete Handspiegel, Edelsteine aller Art, paillettenbestickte Barbiekleider und sonstige, funkelnde Schätze.
Direkt neben dem Plastikkronleuchter installierte ich eine Diskokugel mitsamt Lichtanlage und lag zusammen mit dem Brombeerschnaps stundenlang auf meinem ausklappbaren Sessel. Trotz der räumlichen Begrenzung meines Zimmerchens fühlte ich mich wie in einem Palast aus Licht, Glitzer und Weite.
Eines Tages eröffnete mir der Mitarbeiter vom Pflegedienst, der mir regelmäßig Essen schenkte, dass er sich verabschieden wollte, er würde bei seinem Onkel in der Firma einsteigen, der sei Entrümpler. Sofort wurden meine Ohren heiß, und ich sah Räume voller Glitzer und Schätze vor mir. Kurzerhand fragte ich, ob sie einen Job für mich hätten. Einige Telefonate später durfte ich ein Praktikum machen.
Es gab selten Zimmer voller Glitzer und Schätze, und doch biss ich mich fest in diesem Job, in diesem Team und durfte bleiben. Bis heute fast zwanzig Jahre lang.
Wir entrümpeln alles. Private Wohnungen und Häuser, Betriebe, Schuppen, Kirchen, öffentliche Gebäude. Manchmal ist es sauber und aufgeräumt, manchmal gehen wir mit Schutzausrüstung und Atemmaske vor.
Arbeite ich mich alleine durch einen Raum, singe ich beim Arbeiten. Techno. Wir sortieren brauchbare Fundstücke aus, mein Chef übernimmt sie in seinen Second Hand Laden oder verkauft sie an die Sozialen Kaufhäuser. Ich suche immer noch nach Schätzen. Ich nehme nicht oft etwas mit, manchmal aber überkommt es mich, und wenn es niemand von den Kolleg*innen haben will, dann wandert es in meine Wohnung. Die nicht mehr pink ist und nicht mehr winzig, auch nicht mehr unter dem Dach, aber glitzert und sich freut über neue Verbündete.
Die Arbeit ist körperlich anstrengend und manchmal emotional herausfordernd, und am Ende bleibt immer leerer Raum. Eine offene Wunde. Die versorgt werden muss.
Ich trage stets Fertigspachtel bei mir, auch Nadeln und Faden in unterschiedlichen Stärken, und Farben habe ich in meinem Rucksack, in dem auch eine Rolle Vliestapete und Kleister zum schnellen Anrühren auf ihren Einsatz warten. Klebematerialien, Hammer in verschiedenen Größen, Nägel, Akkubohrer und Schrauben gehören zu unserer üblichen Arbeitsausstattung.
Am Ende des Tages mache ich mich ans Werk. Wenn die Räume leer sind, und meine Kolleg*innen einen letzten Kaffee trinken, bevor es zur Mülldeponie geht, beginne ich mit der Erstversorgung. Ich mache vorsichtige Schritte durch die Räume. Ich spüre die Betroffenheit, die Verletzungen. Unsere lauten Stimmen, unsere Arbeit, das gewaltsame Krachen der zerstörten Möbel, das Splittern von Glas hallen nach.
All das Leben der vergangenen Jahre, der Jahrzehnte, die Geschichten, die Geräusche und Gefühle finden sich in diesem Moment angestaut und in einem unangenehmen Ausmaß in der Luft.
Ich spüre das und beginne, mit den Räumen zu reden.
Ich spreche beruhigend und klar. So, wie ich es im Erste-Hilfe-Kurs lerne, den ich alle zwei Jahre auffrische. Ich spreche sie mit „Liebe Räume“ an. Ich sage den Räumen, dass sie es nun geschafft haben, dass es vorbei ist, dass sie sich jetzt erholen dürfen. Und hoffen.
Dann fange ich an.
Ich kitte kleine Stellen in den Wänden, schließe Bruchstellen in Fensterrahmen mit Kunststofffüllung. Ich streichle über zerstörte Tapeten, hämmere Fußleisten fest. Zeitaufwendig sind Stickereien auf Brandlöchern in Teppichböden. Manchmal reißen wir den Boden mit heraus. Dann bleiben Klebereste, und ich streue dezent Glitzer darauf. Minimal, nur einen Hauch. Das fällt niemandem auf und doch weiß ich, dass die Wohnung diese Zuwendung wahrnimmt.
Mit jedem Schritt, den ich mache, spüre ich die Entspannung des Gebäudes, der Wände, des Bodens, der Decken. Manchmal lassen wir Glühbirnen hängen, da es im Auftrag so gewünscht wird. Ich wische sie mit einem Tuch ab und klebe dann ein schlichtes Pflaster oben auf den Übergang zwischen Birne und Kabel. Auch das sieht niemand, und es beeinträchtigt die Funktionalität nicht. Den Birnen aber gibt es ein Gefühl des versorgt Werdens.
Es kommt vor, dass Gebäude abgerissen werden nach unserer Entrümpelung. Ich erkläre den Räumen den Vorgang. Manche sind dankbar, erleichtert, manche tieftraurig. Manche im Schock. Treppenhäuser tun sich schwer mit dieser Wahrheit, da sie sich ein Leben lang als verbindendes Glied erlebt haben. Sie haben über Generationen alles zusammengehalten, und nun werden sie ihres Jobs entledigt, auf brutale Weise. Das zu verarbeiten ist schwer.
Da das Gebäude abgerissen wird, stört niemanden mein Glitzer. Das ist der Part an meiner Arbeit, den ich insgeheim am meisten schätze. Denn er ist bitter nötig und bedarf einer schier unverschämten Menge an Glitzer. Ich stelle mich ganz nach oben in das Treppenhaus und verteile rund um mich herum Glitzer, den ich in Tüten mit mir trage. Auch Sprühglitzer in Lebensmittelqualität liebe ich, arbeite mich von oben nach unten vor und anschließend nach außen und sprühe traurige, eingefallene Wände, abgeblätterte, wackelige Treppengeländer und heruntergekommene Fassaden voll mit Silber und Gold und erweise meinen glamourösen letzten Dienst. Ich bedecke sie, umhülle sie mit Glitzer, mit Trost. Mit Schutz. Ich tanze dabei. Techno. Es ist, als flöge ich gemeinsam mit den Räumen davon.
Ich stelle mir vor, wie die Wunden beginnen zu heilen. Die Spachtelmasse trocknet, die Wände beruhigen sich. Glühbirnen schlafen ein, und der Boden zieht sich in sich und eine tiefe Entspannung zurück. Das Gewebe vernarbt. Es entsteht eine neue Stabilität. Innere Stärke. Ruhe. Eine Schutzhülle aus Narben. Sie braucht Pflege, Zuversicht und Glitzer. Einen Ort der Fürsorge. Ich nenne ihn Narbenzelt, und überall erkenne ich reißfeste Nähte aus Narbengewebe, das während der Integration dieses Verarbeitungsprozesses entsteht und mit jeder weiteren Zuwendung an Stabilität gewinnt.
Wenn ich fertig bin, packe ich alles zusammen. Ich wasche mir die Hände, verabschiede mich und ziehe die Tür zu. Dann fahren wir los, und nachdem mein Kollege mich zu Hause abgesetzt hat, wie er es immer tut, dusche ich ausgiebig, schlüpfe in Schlabberklamotten und lasse mich mit einer Packung Kekse auf den ausklappbaren Sessel fallen. Den ich habe oft nähen müssen in den letzten Jahren. Ich schalte meine Lieblingsserie ein, nehme mir die Salbe vom Regal und massiere das vernarbte Gewebe an meinen Füßen. Es ist mein Ritual, und es ist wie eine kurze abendliche Kommunikation mit meinem eigenen Narbenzelt. Ein sich des anderen Vergewissern. Ich fühle es stabil und sicher stehen, Stürmen und Unwägbarkeiten trotzen und mich sicher umhüllen.
Während ich massiere, laufen hinten in meinem Kopf Filme, wie der, in dem mein Vater brüllt und meine Mutter erstarrt, und wie ich als Kind-Ich sehe, wie der Topf mit dem kochenden Nudelwasser durch eine ungeschickte Bewegung meinerseits in Zeitlupe direkt vor mir vom Herd rutscht, und ich einfriere. Und mich frage, wo denn die Schmerzen sind. Und nur eines will. Hinkommen zu meinen Eltern. Mich vor meine Mutter stellen, als mein Vater ihr ins Gesicht schlägt. Und auf sie einprügelt. Und ich Blut sehe und meine Mutter schreien höre und im nächsten Moment den ganzen Boden voller Wasser und nicht verstehe, wie es dorthin gekommen ist. Und ich mich nicht bewegen kann. Und mir schwindelig wird. Und Nudeln vor meinen Augen tanzen. Die ich als Überraschung hatte kochen wollen in diesem Wasser. Für uns alle. In der Sechsquadratmeterküche, in die wir nicht zusammen passten, was nicht schlimm war, da wir sowieso nie gemeinsam Zeit verbrachten.
Hinten im Kopf spielen sich diese Filme ab und sie tangieren mich nicht mehr. Es sind Bilder. Es sind Geräusche. Es sind Gerüche. Es ist ich. Und Bestandteil meines Narbenzelts. Es gehört zu mir. Es sind Narben über die Wunden gewachsen und es ist Schutz daraus geworden.
Ich stecke mir einen Keks in den Mund, lasse die Serie an mir vorbeiziehen, spüre, wie ich entspanne. Feierabend. 19 Uhr 38 zeigt meine Kuckucksuhr, und manchmal stelle ich mir vor, wie eines Tages eine Entrümpelungsfirma auch meine Wohnung betreten wird. Ich habe eine Keksdose offen für sie im Regal stehen mit einem Gruß und meinem Wunsch, dass sie Techno hören während der Arbeit. Anstelle von Keksen sind vier Brombeerschnäpse darin und abgepackte Schokolade, die ich regelmäßig erneuere. Ich mag die Vorstellung, wie sie hier hereinkommen, sich einen Überblick verschaffen und dann loslegen. Sie werden sich wohl fühlen. Sie werden gerne hier arbeiten. Sie werden sich über all das Glitzer wundern, und sie werden eine Leichtigkeit spüren. Eine Geborgenheit. Automatisch werden sie durch den Eintritt in meine Wohnung mein Narbenzelt und seinen Schutz betreten, und es wird sie aufnehmen und durch den Tag begleiten. Am Ende werden sie anstoßen mit dem Brombeerschnaps und sich frei fühlen, zugehörig, verbunden. Ich kenne solche Entrümpelungen. In Wohnungen, in denen jemand Vorarbeit geleistet hat, im Einklang gelebt hat mit den Räumen. Das wünsche ich mir, dass die Entrümpelung meiner Wohnung sich so anfühlen wird.
Ich entdecke eine verirrte Fliege am Fenster. Ich öffne ihr die Balkontür und scheuche sie sachte und bestimmt mit einer Zeitschrift hinaus. Ich sage ihr, dass es woanders idealere Lebensräume gibt für sie, und dass wir uns vielleicht eines Tages wieder sehen.
Es ist gut, Hoffnung zu haben.
Es ist gut, etwas zu haben, um sich daran festzuhalten.
Und es ist gut, etwas Schützendes um sich herum zu haben. Eine gut umsorgte Wohnung mit Glitzer zum Beispiel. Und ein Narbenzelt.
(c) Mirjam Sarrazin