Überholspur

Spielzeugschild Überholverbot PKW liegt auf nassem Asphalt

Irgendwo in ihrer Erinnerung schwebt dieses Bild vom ersten Mal Hörgeräte. Das muss noch vor der Einschulung gewesen sein. Sie erinnert sich an vieles nicht, aber an die Akustikerin. Die Erinnerung ist ihr erhalten geblieben, die Akustikerin auch. Zehn Jahre Akustikerin. Das erste Mal richtig angeschaut und wahrgenommen hat sie sie erst letztes Jahr im Herbst.

Manchmal holt sie zu Hause die Post aus dem Briefkasten und öffnet sie. Eher selten, das meiste ist Werbung, und manchmal Mahnungen, und von denen will sie nichts wissen, will niemand was wissen, Stau-Briefe. Was für ein Zufall, dass sie ausgerechnet den Brief im letzten Herbst rausgeholt und geöffnet hat. Eine Einladung vom Hörgeräteladen an ihre Eltern; der Zeitpunkt sei gekommen, neue Hörgeräte für sie von der Krankenkasse finanzieren zu lassen. Und was für ein Glück, dass sie hingegangen ist zu dieser Akustikerin, die wie eine alte Bekannte und doch fremd gewesen ist. Hätte sie den Brief nicht gefunden, würde sie nach wie vor keine Hörgeräte tragen, so wie sie die Alten nicht getragen hat, die mit Glitzer.

Es hat keinen Sinn für sie gemacht, sie in ihre Ohren zu prokeln. Damals. Diese Klänge beim Einstellen und Ausprobieren sind metallisch, Roboterartig gewesen. Nicht greifbar. So viel Energie, die sie immerzu aufgebracht hat, um das Drumherum, die Welt, die Ohnmacht auf Distanz zu halten. Weit weg zu bleiben. Da ist kein Platz für neue Töne, neue Eindrücke gewesen. So unvermittelt im Gehirn. Kein Platz fürs Fühlen. Sie ist ein gestresstes Kind gewesen, denkt sie manchmal. Innen gestresst, außen abgeschaltet. Nur das Glitzer, das hat sie gemocht.

Bei den neuen ist es anders gewesen. Vom ersten Tag an. Wegen des Bluetooth, und der Verbindung mit ihrer Musik, die sie bisher über Kopfhörer gehört hat. In ear, nah dran, und trotzdem weit weg. Und in der Schule verboten. Und das ist schon Grund genug. Als die Akustikerin ihr das mit dem Bluetooth erklärt hat, sie verstanden hat, dass sie über die Hörgeräte von nun an ihre Musik hören können werde, da ist sie da gewesen. Klar. Hellwach. Plötzlich ist dieser Raum um sie herum gewesen, in dem sie gesessen hat. Mit gemalten Kinderbildern an der Wand, einem Regal voller Hörgeräten zum Testen, einem Schreibtisch mit Computer. Und dieser Akustikerin dahinter. Auf einem rollenden Bürostuhl. Die Hello Kitty Ohrringe getragen, den Kopf beim Reden leicht schräg gehalten hat, und mit einem Loch in der Strumpfhose. Und ihr Kekse angeboten hat, die in einer Schale auf dem Tisch gelegen haben. Vom ersten Moment an ist ihr der Vorteil klar gewesen; Musik hören, und niemand kriegt es mit. Immerzu Resonanz.

Wenige Tage nach diesem ersten Termin und dem Bestellen der neuen Geräte ist sie erneut hingegangen, da hat die Akustikerin die gleichen Ohrringe getragen, aber eine andere Strumpfhose, und sie haben die Hörgeräte angepasst im Computer. Mit Hörtest und Worte nachsprechen und Keksen aus der Schale und Aufregung.

Und dann ist sie nochmal hingegangen. Und sie hat erzählt, dass sie hört, wie die Straßenbahn über die Schienen rauscht, wie die Blätter im Wind rascheln, wie Regen prasselt, und dass Seifenblasen keine Geräusche beim Platzen machen. Sie haben das Bluetooth eingeschaltet. „Gib mir mal dein Handy“, hat die Akustikerin gesagt, und da hat sie schlichte, runde Ohrstecker getragen. Und dann hat die Akustikerin das Handy erst mit dem Computer und dann mit den Hörgeräten verbunden. Und sie hat sie in ihren Ohren platziert. Und einen Song geklickt. Und plötzlich ist es da gewesen. Plötzlich ist der Geschmack der Kekse überall gewesen, und die Wärme auch im Herz. Und der Klang.

Da hat sie geweint. Einfach so. Wie ihr das noch nie passiert ist. Und die Akustikerin ist ein Stück näher an sie heran gerollt mit dem Bürostuhl. Auch einfach so. Und der Raum innen und der Raum außen, der Klang, die Akustikerin und die Wärme, das war viel. Bewegung im Kopf. Wie ein Startknopf. Und dann ist sie gegangen, einfach aus dem Laden spaziert. Ohne tschüss sagen. Umgeben von Klang.

In der Gasse direkt vor dem Laden hat dieses abgebrochene Spielzeugschild mit dem Überholverbot gelegen. Da war dieser Begriff in ihr: Überholspur. Und das ist das Gegenteil von Überholverbot. Und noch mehr das Gegenteil von Stau. Überholspur ist Klang, sind Bässe, die körperlich werden, Stimmen, die tanzen in ihr. Überholspur ist auch Kekse und Wärme.

Kurz darauf hat sie angefangen, Geräusche mit dem Handy aufzunehmen. Geräusche lauter stellen, variieren, sie über die Hörgeräte in sich hinein spülen lassen. Sich einverleiben, vertraut machen. Sie hat sich diese App zum Schneiden runtergeladen, angefangen, eine Überholspurcollage zusammen zu stellen. Alles zusammen zu schneiden, was in ihr das Sausen gemacht, das Rasen, etwas zum Klingen gebracht hat. Erst aus dem Außen, dann auch aus Songs, Stimmen aus Podcasts, Passagen in Hörspielen, in Hörbüchern, Teile aus Interviews, Knistern, diese kleinen Momente von Unachtsamkeit in Aufnahmen. Manchmal sind die Sequenzen nur einen Wimpernschlag lang gewesen. All das ist Überholspur geworden, und es ist durch ihre Ohren, ihre Nerven und Adern geflossen, und das Herz hat all das aufgesaugt, wieder rausgepumpt, zurück durch ihren Organismus gewummert.

Resonanz, Nähe, Vertrautheit, Moll und dann meist auch sowas Leichtes, Unverbindliches, vielleicht Straßenköterfarbe als Klang. Und irgendwas mit der Geschwindigkeit, dem Rhythmus. Das hat sie nicht definieren können. Vielleicht eine Brücke zwischen innen und außen. Zwischentöne.

Einige Zeit später, mit der Überholspur in den Ohren, hat sie den Job im Café gefunden, und heute fragt dort einer, was sie für Musik höre, und sie sagt: „Von der Überholspur“, während sie den Kaffee beinahe akrobatisch in die Tasse gießt.

„Überholspur?“, und diese Irritation in der Stimme kennt sie schon, und das bereitet ihr Freude. Es ist heilsam, dieses ins Reden zu kommen. Auch das ist Resonanz. Auch das wäre passend in der Collage.

„Ein Milchkaffee und ein Stück Nusskuchen, bitteschön.“ Beides stellt sie auf der Theke ab. Irgendwie hat es sich eingespielt, dass die Kund*innen am späten Vormittag direkt an der Theke sitzen. Die Ruhe vor dem Sturm des Mittagstisches, und es ist Stammkundschaft. Immer geschäftig, so eine Ruhelosigkeit, die sie ablegen, für diese Momente an der Theke. Welche, die Gesellschaft suchen. Welche, die ihr Fragen stellen, die sie gerne beantwortet, vielleicht weil es auch was zum Klingen bringt in ihr.

Deshalb arbeitet sie so gerne im Café. Klare Aufgaben, gut zu bewältigen, und dann das Plätschern von Miteinander. Das bindet ihre Aufmerksamkeit.

„Mach mal was an“, sagt er, der nun vom Milchkaffee trinkt. „Von deiner Überholspur.“

Sie zuckt die Schultern: „Mach ich.“

Sie steckt ihr Handy an den Adapter, scrollt durch die Collage. Play. Es gibt auch ganze Songs. Das passt hierher.

„Das ist aber doch was aus den Charts“, und die Irritation bleibt, und das macht sie lebendig.

„Ja, auch Charts ist Überholspur.“

„Gefällt mir, der Song“, sagt er und kaut Kuchen.

So bleibt es stehen im Raum. Die Irritation, der Song, ihr Gefühl. Nebeneinander.

In der Schulzeit kann sie nicht jeden Tag ins Café. Da muss sie die Stunden absitzen. Ihr Ziel ist es, die Collage mindestens so lang wie einen Schultag zu basteln. In der Schule weiß niemand von der Collage, auch nicht von den Hörgeräten, oder vom Bluetooth, und sie schläft nicht mehr so häufig ein im Unterricht. Und das scheint schon zu reichen fürs erste. Sie sagen dann: „Viel kommt da ja nicht von dir, aber immerhin schläfst du nicht mehr ständig ein.“ Und dann nickt sie. Und lächelt. Und währenddessen Überholspur. Ahnt ja niemand.

Nach der Schule immer Café. Dort geht es ihr gut. Die kleinen Unterhaltungen, das rein und raus der Leute. Die Bewegung der Tür. Die Routinen. Wenn es regnet, Regenschirme, die in der Ecke stehen. Die Frage: „Kann ich den Kinderwagen hier stehen lassen?“, alltägliche Blicke. Im Café ist es weich. Sie bleibt so lange, wie sie kann. Sie macht die Nachmittagsschicht und Überstunden. „Klaro“, sagt sie, wenn wer fragt, ob sie heute vielleicht länger kann. „Und morgen?“ In den Ferien, an den Wochenenden kann sie immer.

Wenn die Gäste mal ausbleiben, legt sie sich auf eines der alten Sofas und döst sich die Überholspur entlang, stellt sich vor, wie es wäre, nie wieder aufzustehen, liegen zu bleiben, abzutauchen ins Weiche, in den Klang. Irgendwann kribbeln ihr die Beine, sie spürt die Unruhe. Sie muss aufstehen, muss sich vergewissern, ob alles ist, wie es ist. Es ist dieser Sog, und sie räumt die Küche auf, löscht das Licht, schließt die Tür ab, und geht dahin, wo zu Hause ist, Überholspur parallel.

Dort ist dann alles Stau. Nicht zähfließender Verkehr, sondern Stillstand. Leute hupen nicht mehr, Leute versuchen nicht mehr, rechts oder links am Vorderfahrzeug vorbei zu schauen, kein Fluchen mehr. Das haben sie schon hinter sich. Einfach nichts geht mehr. Sie steigen aus, lassen Türen und Kofferräume offenstehen, rauchen, essen, trinken, starren in die Ferne, pinkeln an die Leitplanke.

Die Wohnung ist dreckig, und das ist sie seit Jahren. Es liegt ein klebriger, staubiger Film auf den Möbeln, in den Ecken türmen sich Dinge. Das Sofa hängt durch, der Sessel steht auf dem Balkon, weil er nicht mehr nutzbar ist, also steht er auf dem Balkon, aussortiert, sollte zum Sperrmüll, seit Jahren, niemand bringt ihn runter, niemand bewegt ihn, niemand bewegt sich. Bewegt irgendwas. Stau. Kinder pinkeln neben das Klo.

Zwei Geschwister gibt es, in diesem Alter, in dem sie immer kurz vor knapp aufs Klo rennen, meistens zu spät, dann läuft es schon im Flur in die Hose, oder neben dem Klo auf die Fliesen, weil die Hose runterziehen noch klappt, und dann eben nichts mehr.

„Mama!“, schreien sie, als wäre bei ihnen noch nicht angekommen, dass Stau ist, als hätten sie noch Hoffnung auf Bewegung. „Mama!“, und die kommt nicht. Die hört nix. Die hängt vorm PC und ballert. Mit Kopfhörern. Bei geschlossener Tür. Oder schläft. Immer müde. Abgeschottet. Also kommt Papa, irgendwer muss es ja tun. Sie hören nicht auf zu schreien, und sie schreien nie „Papa!“, und es ist völlig klar, warum nicht, und doch kommt immer Papa. Er schreit, oder schlägt und geht zurück auf das durchgehangene Sofa.

Sie weinen, manchmal, sie ziehen die nasse Hose wieder hoch. Die Pfütze bleibt. Überall bleiben Pfützen. So ist das im Stau.

In der Küche macht sie Kakao. In der Mikrowelle. Die funktioniert. Die gibt diesen Ton von sich, und dann riecht es nach Wärme, das Weiche aus dem Café streift ihren Bauch, der kalte Rauchgeruch tritt in den Hintergrund.

„Machst du mir auch einen?“, ruft er aus dem Wohnzimmer, und das ruft er immer. Auch das ist Stau. Das muss man wissen, sonst könnte man meinen, es hätte sich kurz was zurecht geruckelt. „Machst du mir auch einen“, das könnte so ein ganz normaler Satz in so einer ganz normalen Familie mit Versorgen und Vorlesen und Gutenachtkuss sein. Das denkt sie. Jedes Mal. Seit Jahren. Dass es das sein könnte, und doch was ganz anderes ist.

„Nee“, sagt sie zu sich, und zieht eine Grimasse, dann geht sie rüber ins Wohnzimmer, baut sich vor ihm auf, wie er daliegt auf dem Sofa, auf den Bildschirm starrt: „Du bist so ein Idiot. Hör auf damit. Du trinkst den eh nicht.“

Dann grinst er, zieht an der Zigarette, Blick auf den Bildschirm. „Ist so schön, von dir versorgt zu werden“, sagt er.

Sie geht, holt die drei Kakaotassen aus der Küche, bringt sie ins Kinderzimmer.

„Kakao“, rufen sie, und purzeln übereinander im unteren Doppelstockbett.

„Habt ihr kein Laken?“, fragt sie, und nickt zur Matratze.

Sie kichern, lachen laut, kriegen sich nicht wieder ein. Eins fällt auf den Boden, schreit vor Albernheit, eins kugelt sich über die fleckige Matratze. „Kakao!“, schreit es, und sie stellt die Tassen auf den Boden. Neben all den Kram. Ein Kinderfuß landet an den Tassen, eine fällt um, Kakao überall.
„Ich nehm den“, eine Kinderhand schnappt sich die volle Tasse, eine zweite Kinderhand die andere.

„Jetzt hast du keinen mehr!“, schreien sie und jubeln und lachen.

Sie stellt die leere Tasse auf, seufzt: „Wo ist das Laken?“

Sie zeigen zum Fenster, das offensteht. In der Nachbarschaft ist ein Kind aus dem vierten Stock gefallen. Daran denkt sie, während sie einen Blick aus dem Fenster wirft. Das Laken hängt im Gebüsch unter dem Fenster. „Der bringt euch um“, sagt sie und kurz halten sie inne. Kurz Ruhe. Und im Kopf so laut. Laute, gestaute Leere.
„War Pipi drauf“, sagt eines und das andere schlürft den Kakao leer, knallt die Tasse auf den Boden, rülpst: „Mehr!“

„Ich mach euch Toast“, sagt sie, schließt das Fenster, dreht den Fernseher lauter, will aus dem Zimmer gehen. Da kommt er. „Na, was macht ihr hier zusammen?“, fragt er, und er klingt interessiert, und da dreht sich ihr der Magen um. Dass er manchmal auftaucht, als wäre nix. Als wären sie mit 130 Sachen auf der Autobahn unterwegs auf dem Weg in den Urlaub, irgendwo hin, wo es warm ist, und Strand und einen Pool gibt, so ein echtes Familienidyll, sowas mit Kümmern und regelmäßigen Mahlzeiten und abends Kerzen. Gute Musik im Radio, ein Lächeln auf den Lippen und liebevoll zusammen gestellte Snacks. Oder Eis von der Raststätte, das würde es auch schon tun. Oder eine Packung Milchbrötchen vom Discounter, die sie vor sich hin mümmeln, während sie aus dem Fenster schauen. Sie könnten auch streiten zwischendurch, oder genervt oder gelangweilt sein. „Wann sind wir da?“, wäre völlig legitim, auch wiederholt. Sie wären unterwegs, schnell. Bewegung. Es wäre kein Stau, kein Stillstand, kein „Na, was macht ihr hier zusammen?“, das schneidet wie ein frisch geschärftes Messer.

Sie geht an ihm vorbei, sieht noch aus dem Augenwinkel, wie er sich die Kinderkörper schnappt, kitzelt, lautes Kreischen. Stillstand. Stau. „Aufhören!“, sie japsen nach Luft. Er hört nicht auf, er hört nie auf.

Sie rennen durchs Zimmer, klettern aufs Bett, von da auf den Schrank mit der kaputten Tür. Er grölt: „Ich kriege euch!“, und er lacht, und sie kreischen und springen zurück aufs Bett, und manchmal mutig direkt auf den Boden, flitzen durcheinander, schließlich in den Flur.

In der Küche schaut sie in den Kühlschrank, nimmt ein Bier.
„Papa!“, ruft sie, und die Lippen sind trocken und der Mund pelzig: „Ich mach uns ein Bier auf.“

Der Öffner liegt in der Spüle. Da kommt er schon, außer Atem, hustet, stellt sich vor sie, seine Finger machen Kitzelbewegungen in ihre Richtung, er grinst: „Na? Du auch?“

„Kitzel sie!“, schreien Kinderstimmen und kreischen.

Sie reicht ihm das Bier: „Mach denen mal Toast. Dann können die gleich ins Bett.“

Er nimmt tiefe Schlucke, rülpst: „Okidoki.“ Er grinst, greift nach der Toastpackung.

Sie geht rüber aufs durchgehangene Sofa, lässt sich das kalte Bier die Kehle runter laufen, stellt die Musik laut. Überholspur. Als das Bier leer ist, steht sie auf. Sie muss hier jetzt raus. Musik aus. Horchen. In der Küche brüllt er. Kinderweinen. Sicher gehen sie ohne Toast ins Bett. Sicher schlafen sie nachher unter dem Bett auf dem verkrusteten Boden. Sicher wird sie sich auf die fleckige Matratze über ihnen legen. Mitkriegen, ob er nachts aufsteht, und kommt.

Eines Tages wird sie gehen. Und sie mitnehmen. Sie wird eine Wohnung mieten und ihnen jeden Tag Kakao kochen, und dann wird sie vorlesen und Spiele spielen, und abends Kerzen. Das geht noch nicht. Sie ist zu jung, sie hat keine Chance. Noch ist Stau. Aber auch Überholspur. Nebeneinander her. Und irgendwann bringt sie die hier weg.

Jetzt erstmal raus. Musik an.

Draußen ist dann plötzlich Schnee. Der war vorher nicht da. Der fällt rund um sie vom Himmel. Sie atmet die kalte Luft ein. Davon verschwinden die Kopfschmerzen. Dann geht es los. Überholspur. Jetzt die Collage, die ihr Bestes gibt. Klacken, Rauschen, eine kurze Sequenz von einem Drum’n Base Stück, dann eine tiefe Stimme, die über Waschmittel spricht, und dabei das R rollt. Entspannung. Endlich Bewegung. Endlich rast das Gehirn, findet ihr Inneres nach außen. Der Schnee nimmt die entgegengesetzte Richtung, nimmt sie ein, von außen nach innen, die Sneaker, die Jacke, die Hose. Hände tief in den Taschen. Die Kälte frisst sich durch. Kälte gegen Überholspur. Ein Wettrennen. Automatisch beschleunigt sie ihre Schritte. Am Ende verliert sie trotzdem. Die Batterie des rechten Hörgeräts signalisiert Leere. Kurz darauf des Linken. In den Jackentaschen kein Ersatz. Postwendend Stillstand im Gehirn. Plötzlich zittert der Körper, klappern die Zähne, spürt sie die eiskalten Zehen. Plötzlich ist der Weg zurück nach Hause unendlich weit. Zurück zur fleckigen Matratze. Plötzlich Sorge. Das schlechte Gewissen. Einfach losgegangen. Weg vom Stau.

Trotzdem hält sie nochmal an. Tippt mit den roten Fingern die Aufnahmeapp auf dem Handy. Start. Schritte im Schnee. Knirschen. Das weiß sie, ihr Gehirn weiß das. Sie hört es nicht. Wie eine Leerstelle, ein Ausbleiben. Wie ein unausgefüllter Raum. Jetzt, seitdem sie weiß, dass es das Knirschen gibt. Das Handy nimmt auf. Speichert ab. Übernimmt für sie das Hören. Für später. Dann wird sie auf der fleckigen Matratze liegen, das Kinderatmen unter ihr, auf dem Boden, gleichmäßig, beruhigend trotz der Anspannung, und mit neuen Batterien werden die Hörgeräte funktionieren, und sie wird sich das Knirschen anhören. Und es einfügen in die Collage, die wächst. Das tröstet. Das schafft die Verbindung, die sie braucht, um den Weg nach Hause zu schaffen, aufzuschließen, die Luft anzuhalten, sich bereit zu machen für all das Ungewisse, das erstarrt lauert in dieser Nacht, im Stau, in jedem Moment, immerzu.

Am nächsten Tag schwänzt sie die Schule. Alles ist gefroren, eiskalt. Außen und innen. Es ist, als könne sie auseinander fallen, sobald etwas sie berührt. Sie fährt mit dem leeren Bus in die Innenstadt, bahnt sich den Weg durch den Matsch zum Hörgeräteladen. Die Geräte mal wieder saubermachen lassen. Und Kekse aus der Schale.

© Mirjam Sarrazin

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