Morgens lese ich diesen Satz. Trauer braucht Raum. Trage ihn mit mir durch den Tag. Betaste ihn. Befühle ihn. Finde ihn kantig, eckig, abgelatscht. Dieser Gedanke von Raum wabert irgendwo in mir herum. Wenig greifbar. Abends sitze ich mit dem Kind vor dem Fernseher.
Wir zappen uns durch digitale Formate und bleiben bei einer Zeichentrickserie der 90er hängen, und da passiert etwas Unerwartetes. Das Intro läuft, und in mir entsteht etwas. Wabert sich zu etwas Definiertem. Nimmt Gestalt an. Wächst. Schrumpft. Wie eine Masse bewegt es sich. In einem Rahmen. Offener Raum. Als Fakt. Zustand. Element. Zugang. Ich fühle mich eingenommen. Dann wieder nehme ich ein. Wir wechseln die Rollen, dieser Raum und ich. Wir umrunden uns schleichend, gebückt, leise, bedacht, erforschen uns. Mit Abstand. Und doch ganz nah. Ineinander. Eins und getrennt. Tschüss. Tschüss. Tschüss. Geht mir durch den Kopf. Bei Trauer immer dieses Tschüss. Tschüss. Tschüss. Das führt doch zu nichts. Lieber Herzlich Willkommen. Nicht Herzlich Willkommen Trauer. So abstrakt, nicht gefüllt.
Herzlich Willkommen in diesen Raum. In diesem Raum. Ich trete ein. Lade ein. Verlasse und befülle. Mit diesem Intro. Das Intro dieser alten Zeichentrickserie tönt durch den Raum. Sonntagmorgende vor dem Fernseher. In diesem Trauerraum. Und meine Gedanken biegen plötzlich ab. In einen Comic. Ich werde riesig, weil der Raum wächst. Ich werde winzig klein und aus dem Off Sprechblasen. Der Raum ist geöffnet. Von überall strömen Figuren in den Raum. Plötzlich ein DJ. Bass. Zeichentrickfiguren tanzen, und Superheld*innen exen Drinks. Laut. Albern. Hier kreischen, dort grölen. Und dann diese Weide mitten in diesem Raum. Der Fluss. Irgendwo ein Hahn auf einer Kirchturmspitze. Menschen. Dieser Raum ist voll. Leute sprechen ausgedachte Sprachen, spielen Kassetten ab, halten Schafe in die Höhe. Wild. Seidenraupen irgendwo.
Ich werde neugierig. Mutig. Ich nehme ein altes Bilderbuch aus dem Außen und setze es mitten in den Raum. Plötzlich steht die Katze neben dem Buch. Im Raum. Plötzlich in mir ein Glucksen, ein Kribbeln, ein Lachen, das nach oben drängt. Aus mir heraus bricht. Ich lache. Die Katze kommt und kuschelt. Mir laufen die Tränen. Menschen. Die ich lange nicht gesehen habe. Hier in diesem Raum. Halte ich Abstand. Schaue von Weitem. Lache. Während ich lache und so ausgelassen bin.
So drüber irgendwie. Größenwahnsinnig nehme ich mein Auto, meine Wohnung, alle meine Emotionen und packe alles in den Raum. Sofort wächst Mais. Aus allem. In allem. Ich ziehe mich aus und gleite in das kalte Wasser. In diesem Raum. Atme tief und ruhig. Die Lunge zieht sich zusammen. Dann Entspannung. Ich lache. In diesem Raum ist Entspannung. Trauer braucht Raum. Wird befüllt mit Leben. Mit Sehnsucht. Altem und Neuem. Vergangenem und Werdendem.
Ich steige aus dem Wasser, dem Raum, und während ich mich abtrockne, bestaune ich diesen Raum. Mache einen Spaziergang. Ich gebe Raum. Halte ihn. Fühle ihn. Sehe ihn. Zeichne Konturen nach, spüre Begrenzung und Weite. Fühle mit. Ein Schatz. Kann ihn füllen. Betreten. Zwischen die Welt und mich setzen. Er werden. Getrennt bleiben. Trauer braucht Raum, und wenn Trauer das Leben ist, ist Platz für all das, für all das ganze Leben in diesem Raum.
Und während der Himmel dunkel wird und Mickey Mouse auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Hand zum Gruß hebt, frage ich mich, ob das Außen ganz in diesen Trauerraum passen kann, und überall in mir ist diese Erleichterung. Ich kann das ganze Leben in ihn füllen. Und ohne Anstrengung. Ohne Firlefanz. Ohne Tschüss und ohne Rituale. Wird Trauer Raum. Wird das Leben Raum, und Trauer wird Leben.
(c) Mirjam Sarrazin