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In der U-Bahn sitzen auf den Plätzen direkt vor mir zwei Schulkinder, und während sie das Geschehen um sich vergessen zu haben scheinen und im Hier und Jetzt versunken abwechselnd in eine zerknautsche Papiertüte greifen und mit klebrigen Fingern Süßigkeiten herausziehen, spielen sie dieses Spiel, bei dem die eine Person zwei Optionen nennt und die andere sich für eine der beiden entscheiden muss.

Die eine Person sagt zum Beispiel „Hund oder Katze?“. Und die andere wählt, was sie lieber mag. Oder die eine Person sagt „In eiskaltes Wasser oder in Brennnesseln springen?“. Und die andere muss sich für das in ihren Augen kleinere Übel entscheiden.

Das eine Kind zieht gerade einen kleinen, grünen Frosch aus der Papiertüte, stopft ihn in seinen Mund und fragt dann das andere Kind laut kauend: „Regenwurm essen und Hundekacke anfassen.“

Das Gefragte antwortet sofort. „Die Hundekacke“, sagt es überzeugt. „Finde ich gar nicht eklig.“ Und dann steckt es selber seine Hand in die Papiertüte und wählt eine Lakritzschnecke, wickelt sie vorsichtig ab, schaut kurz aus dem Fenster, überlegt, steckt ein abgerissenes Stück Lakritz in den Mund und nuschelt: „Pipi trinken und.“ Jetzt unterbricht es, um Lakritz nachzuschieben und zu schlucken. „Also Pipi trinken und Bier trinken?“

Es fällt mir tatsächlich nicht sofort auf. Ich habe zunächst nur das Gefühl, dass etwas anders ist an ihrem Spiel. Eine atmosphärische Irritation. Ich kann sie nicht sofort den Kindern und ihrem Spiel zuordnen. Irgendetwas fühlt sich fremd an. Dann aber wird es mir klar. Die Kinder sagen „und“. Nicht „oder“. Sie verbinden die beiden Optionen mit einem und. So kenne ich es nicht. Ich habe es so noch nie gehört. Während ich ihnen lausche, stelle ich fest, dass diese Variante eine interessante Wirkung auf mich hat. Es ist, als stellten sie keine geschlossene Frage mit zwei zu wählenden Optionen, sondern als läge die Betonung des Spiels darauf, hervorzuheben, welche Optionen sie sich nun gerade ausgedacht haben. Es ist, als würden sie sagen: „Ich suche mir folgende Optionen aus. Aus einer Vielzahl an Möglichkeiten.“ Der Fokus liegt darauf zu erkennen, was diese beiden Kinder in diesem Moment daraus machen. Es wirkt wie ein Beobachten der Gesamtsituation. Pipi und Bier trinken. Beides mögliche Optionen. Die sich nicht ausschließen.

Ich richte mich auf meinem Platz etwas auf, lausche jetzt gespannt, was das Kind, das gerade dran ist, als Optionen vorschlägt. „Vom Zug überfahren werden und verbrennen“, fragt es. Nein. Es sagt es. Es fragt nicht. Obwohl es am Ende hoch geht mit der Stimme wie bei einer Frage. Und jetzt passiert etwas Spannendes. Das andere Kind greift sich die Papiertüte, hält dann aber inne und sagt sehr ernst: „Und vom Dach fallen.“ Nun hält es den Kopf schief und schaut etwas verkrampft in die Tüte. Erstarrt für einen Moment, sieht kurz hoch. „Das würde auch noch dazu passen, vom Dach zu fallen.“ Die Blicke der Kinder treffen sich. „Das stimmt“, sagt das Kind, das die Optionen vorgeschlagen hatte. „Das würde auch noch passen. Aber das nimmst du bestimmt nicht, oder?“ Und in der Stimme liegt plötzlich Verunsicherung, etwas Verletztes, Flehendes. „Ach nein, das nehme ich nicht“, antwortet da schon das andere Kind leise und doch mit Nachdruck und zieht einen langen Weingummiwurm aus der Tüte, bewegt ihn schlängelnd auf das andere Kind zu und ruft kichernd: „Vom Regenwurm gefressen werden nehme ich.“ Es drückt den Wurm in die Wange seines Gegenübers und faucht. „Das ist doch kein Drache“, antwortet dieses und muss auch kichern und sucht in der Tüte nach einem ebenbürtigen Gegner.

Ich atme tief aus. Und tief wieder ein und spüre, wie Luft durch meine Lungen strömt. Da lag einen Moment Schwere in der Luft, über den Kindern, zwischen ihnen. Nun ist sie wieder weg. Sie ist davongeflogen. Und. Es war schwer, und nun ist es leicht. Sie kichern und haben einen Umgang mit diesem Schweren. Mir imponiert die Unbefangenheit, das sich Berühren und dann wieder Wegfliegen lassen. Es geschehen lassen. Das und. Das ist es, was mir imponiert. Nicht nur in ihrem Spiel, auch in ihrer Sprache, in ihrem Zugang zum Leben. Es spielt eine wesentliche Rolle. Schweres und Kichern. Vom Dach fallen und Regenwürmer.

Ich spüre Entspannung. Der Konflikt mit meiner Chefin aus der heutigen Konferenz rutscht in den Hintergrund, der Stress dieses Arbeitstages fällt von mir ab. Ich stelle mir vor, wie er durch die dreckige Fensterscheibe der U-Bahn nach draußen strömt und mit den vorbeifliegenden Momentaufnahmen der Stadt aus meinem Bewusstsein entschwindet.

Ich spüre Wärme in meinem Bauch und wie ein kleiner Tornado überkommt mich tief innen Vorfreude auf den Abend mit N.

Wir haben uns einige Tage nicht gesehen. N. musste beruflich ins Ausland. Nun ist sie wieder da. Gleich werde ich sie sehen. Wenige Minuten sind es noch. Wir werden uns umarmen und spüren und zusammen essen gehen. Und da sein. Im Moment. Miteinander. Und auf ihre Frage, wie es mir gerade geht, werde ich vielleicht zu ihr sagen: „Angestrengt. Wegen meiner Chefin und ganz wunderbar, weil ich dich jetzt gerade sehe, und weil da diese Kinder in der Bahn waren, und die haben es mir angetan. Mit ihrem und.“

In diesem Moment fährt die U-Bahn meine Haltestelle an, und während ich aufstehe und aussteige, beobachte ich die Kinder und höre ihr Kichern und ihr Spiel. Ich fühle mich beflügelt. Wach. Lebendig. War es ihre Konzentration auf die Situation? Ihr in sich und dem Hier und Jetzt ruhen? War es die Lebendigkeit? Der kurze Ausflug in das Schwere? Oder war es das und?

Ich sehe N. Wie sie lässig auf dem Bürgersteig steht. Neben dem Schaufenster des Kiosks. Wie sie in ihrem Handy liest. Wie sie aufschaut. Mich entdeckt. Wir ihr ganzer Körper hüpft vor Freude. Ohne dass ihre Füße den Boden verlassen. Das ist eine dieser Bewegungen, die ich so mag an ihr. Dieses körperliche Freuen. Fast unbemerkt und intensiv. Ich gehe auf sie zu. Wir nehmen uns in den Arm. Küssen uns flüchtig auf den Mund. Das macht uns vielleicht aus. Dass wir zaghaft sind miteinander. Wir brauchen immer eine Weile, um beieinander anzukommen. Auch nach der langen Zeit, die wir uns kennen. Ich spüre ihre Aufregung. Und meine. Leise. Ich freue mich. Schaue in ihre grünen Augen, die mich an einen tiefen Waldsee erinnern. Und dann sage ich: „Was gibt es heute Abend für uns? Sushi und zur Lieblingspizzeria?“

Und in dem Moment, wo ich es sage und das „und“ einsetze, anstelle des „oder“. Bewusst. Explodiert diese vorsichtige Freude in mir, und ich stelle fest, dass dieser Moment hier, dieses kurze Gespräch zwischen N. und mir, diese Einleitung in diesen herbei gesehnten Abend, das mit uns macht, was ich bei den Kindern wahrgenommen habe. Ein voll und ganz im Moment Sein. Ein sich Einlassen auf das Hier und Jetzt. Ein alle Türen aufreißen, und sich ganz dem hingeben, was es ist und was nun kommt. Was wir sind. Ein Fühlen. Ein Empfinden. Ein Da sein. Ein Spüren. Und das treibt mir Tränen in die Augen. Vor Berührt Sein.

Und N. lacht und schaut mich an und springt ohne den Boden zu verlassen. „Und zum Nachtisch Eis“, sagt sie. Und dann gehen wir los. 

© Mirjam Sarrazin

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